»Vati hat aber nicht so viele graue Haare wie du.«
»Wenn du weiter so unartig bist, wie in den letzten Tagen, bekommt er sie.«
Schweigend ging Bärbel neben der Großmutter her.
»Hör’ mal, Goldköpfchen, wie schön die Vöglein singen!«
»Ja, Großmama, die derfen singen und wir nicht.«
»Bei den Vögeln ist das ganz anders, und daheim darfst du auch singen.«
»Großmama, kannst du deinen Kopf aufmachen?«
»Nein.«
»Wie gibst du denn aber dem kleinen Vogel Futter?«
»Welchem Vogel?«
»Der Joachim sagte doch, du hast im Kopf einen Vogel? – Singt der auch?«
»Der Joachim ist ein unartiger Junge.«
»Das derf man wohl nicht wissen, daß du einen Vogel im Kopfe hast? – Kann der gar nicht raus?«
»Nein«, klang es kurz zurück.
»Pickt der Vogel in deinem Kopfe?«
»So etwas darfst du nicht mehr fragen, Bärbel, denn der Joachim hat da etwas sehr Ungezogenes gesagt.«
»Kann dein Vogel gar nicht singen?«
»Die Großmama hat keinen Vogel – und wenn du jetzt weiter solch dummes Zeug redest, wird die Großmama krank, dann stirbt sie, man legt sie in einen schwarzen Sarg; und dann kommt ein solch großer Wagen, wie du ihn neulich gesehen hast. Darauf fährt man die Großmama hinaus.«
Bärbel sprang an Frau Lindberg hoch. »Wenn du fährst, Großmama, dann sitz ich auf ’m Kutscherbock.«
»Willst du denn, daß die Großmama stirbt?«
»Dann kommst du in den Himmel und wirst ein Engel, – ein ganz großer Engel! Na, Großmama, du kannst nicht zu dem kleinen Fenster rein, du mußt ganz große Flügel haben, sonst plumpst du auf die Erde.«
Frau Lindberg sah ein, daß nach dieser Richtung hin mit dem Enkelkinde nichts anzufangen war. So ermahnte sie Bärbel ernsthaft, artig zu sein, weil sonst die Reise nach Dresden fraglich würde.
»Der olle Teufel will nicht, daß Bärbel fährt. Da kommt er immerzu und macht Bärbel unartig. – Nicht wahr, Großmama, der Teufel ist böse?«
Frau Lindberg war froh, daß man die Apotheke erreicht hatte. Sie ließ das Kind zunächst laufen und berichtete ihrem Schwiegersohn von den Klagen der alten Frau Römer.
»Wir müssen dafür sorgen, daß der Junge nicht dauernd mit Emil Peiske zusammen ist, er hat doch genügend Schulfreunde. Was soll denn aus dem Knaben werden, wenn es so weitergeht.«
Erst zum Abendessen fand sich der Gesuchte ein. Er sah jämmerlich aus, hatte Tränen in den Augen und eine große Beule an der Stirn.
»Wo bist du gewesen?« herrschte ihn der Vater an. »Wie siehst du aus, und woher kommt die Beule?«
»Der Emil – der Emil …«
»Habt ihr euch wieder geprügelt?«
»Ach nein, – er ist doch mein bester Freund, – er hat mich mit einer Blume geworfen.«
»Und davon hast du die Beule bekommen?«
Nun heulte der Knabe los. »Wenn doch noch ein Topf dran hing. Ach, ich hab’ ja solche Leibschmerzen!«
»Vom Kirschenessen!«
»Ich hab vierzig Steine mit runtergeschluckt.«
»Du müßtest solche Leibschmerzen haben, daß du nicht gehen und stehen kannst«, schalt der Vater. »Nach dem Abendessen kommst du hinüber in mein Zimmer!«
»Wenn ich doch solche Leibschmerzen hab’.«
»Ich will dir einen Denkzettel geben, mein Sohn, damit du nicht anderen Leuten in die Gärten gehst und Obst stiehlst. Passiert das noch einmal, höre ich in den nächsten vierzehn Tagen noch irgendeine Klage über dich, kommst du zu Oktober in Pension, aber in strenge Zucht. Das merke dir!«
Nach dem Abendessen bekam Joachim seine wohlverdienten Prügel. »Weißt du auch, warum ich dir die Schläge gegeben habe?«
»Wenn du es nicht weißt, warum haust du mich denn dann?«
»Bengel, ich rate dir, nimm dich zusammen!«
Als Joachim verweint ins Schlafzimmer kam, denn er mußte heute zur gleichen Zeit wie Bärbel zu Bett gehen, kam Goldköpfchen leise zu ihm ins Zimmer und streichelte die Wange des Bruders.
»Wir haben’s ja gar nicht gewollt, Joachim, das hat alles der böse Teufel gewollt.«
»Laß mich in Ruhe!«
»Hat er sehr gehaut?«
»Geh doch schlafen, dumme Liese!«
»Joachim! Im Kopfe von der Großmama ist aber kein Vogel drin.«
»Doch, ein mächtig großer sogar, die olle Petze!«
»Die Großmama hat aber gesagt, da ist kein Vogel, und den Kopf kann sie auch nicht aufmachen.«
»Du bist ja viel zu dämlich. – Jetzt laß mich endlich in Ruhe.«
Da ging das Kind betrübt aus dem Zimmer des Bruders. Als aber Frau Lindberg nochmals hereinkam, um nachzusehen, ob Goldköpfchen schlief, als sie sich über das Bettchen neigte, schlang das Kind beide Arme um ihren Hals.
»Bärbel will nun wieder ganz artig sein, und der Joachim sagt, du hast doch ’nen Vogel. Aber du hast wohl keinen? – Nein?«
»Gute Nacht, Goldköpfchen, jetzt schlaf!«
»Und ich möcht’ noch so vieles wissen, Großmama!«
»Jetzt wird geschlafen, Kind!«
»Du hast ja das Fenster nicht aufgemacht, Großmama. Will der Schutzengel heute nicht zu mir?«
»Er wird sehr böse auf dich sein, Bärbel.«
»Kommt dann der Teufel?«
»Wenn du betest, kommt der Teufel nicht. Und wenn du die Großmama liebhast, bist du jetzt ganz still.«
»Ich werd’ gleich still sein, liebe Großmama, aber …«
Da verschwand Frau Lindberg aus dem Zimmer. Bärbel lag noch lange mit offenen Augen in ihrem Bettchen und schaute nach dem Fenster, ob der Schutzengel nicht doch draußen wartete. Wenn nur die Großmama nochmals käme, damit sie sie fragen konnte, ob ein ganz kleiner Schutzengel nicht auch durch das Ofenloch hereinkommen könne.
Beim angestrengten Nachdenken über dieses Problem schlief Goldköpfchen bald ein.
Seit drei Tagen weilte Bärbel in Dresden bei der Großmama und Tante Agnes. Tante Agnes war die jüngere Schwester Frau Wagners und lebte mit Frau Lindberg zusammen. Man hatte in einem großen Mietshause eine Vierzimmerwohnung inne, ein älteres Mädchen besorgte den Haushalt.
Natürlich war hier dem Kinde alles neu. Was gab es nicht zu sehen! Die Straßen mit den vielen Menschen, die hohen Häuser, die elektrischen Bahnen, die Schaufenster mit den vielen Auslagen; alles das war für Goldköpfchen eine neue Welt.
Tante Agnes erklärte bereits am zweiten Tage, daß sie von den Fragen Bärbels vollkommen erschlagen sei. Es war ihr unmöglich, für alles eine Antwort zu finden, denn Bärbel ließ sich nicht so rasch mit allgemeinen Redensarten abspeisen.
Tante Agnes fürchtete sich geradezu, dem wißbegierigen kleinen Mädchen etwas Neues zu zeigen, und doch hatte man für heute nachmittag den Besuch des Zoologischen Gartens vorgesehen.
»Ich glaube, Mama, heute abend sind wir beide nur noch halbe Menschen«, sagte sie seufzend zu Frau Lindberg.
»Oooch!« Bärbel stand kerzengerade vor der Tante. »Warum bist denn du nur ein halber Mensch heute abend?«
»Weil du so viel fragst, Bärbel.«
»Wenn ich nu immer noch mehr frage, Tante, – was bist du denn dann?«
»Du mußt nicht gar so neugierig sein, Bärbel.«
»Welche Hälfte bist du dann heute abend?«
»Nur noch die untere.«
»Ooch – hast du heute abend keinen Kopf mehr?«
»Wenn du noch lange fragst, – nein.«
»Tante Agnes«, jubelte das Kind, »jetzt frage ich mal so lange, bis dein Kopf weg ist.«
»So – soll die Tante ohne Kopf herumlaufen?«
»Ich möcht’ doch so gern sehen, wenn du keinen Kopf hast.«
»Laß mich jetzt in Ruhe, Goldköpfchen, oder ich gehe nicht mit in den Zoologischen Garten.«
Die Großmutter nahm Bärbel jetzt an der Hand.
»Du kannst mit mir ins große Zimmer hinüberkommen, Kind, ich will die Gläser in den Schrank stellen. Wir wollen Tante Agnes allein lassen.«
Читать дальше