Die Trautmannsdorfer Marianne hat ihn entdeckt, als sie auf dem Weg zum sonntäglichen Gottesdienst war. Von der Ferne kann man ihn ja wegen der vielen Blätter kaum sehen, den Xaver. Nur wenn man direkt – fast schon drunter – daran vorbeigeht und hochschaut, sieht man ihn.
Sie hat sich zwar gewundert, als Sie den Xaver da oben sah, wie er gerade Brotzeit machte, und er sie kauend mit einem Kopfnicken grüßte – ein Brotzeitbrett hatte er auf dem Schoß und schnitt darauf gerade sein G‘selchtes in Stücke –, aber weil es ihr schon pressierte, da hat sie sich nur gedacht, der Xaver würde schon einen Grund haben, an diesem warmen Sommermorgen auf der alten Eiche Brotzeit zu machen.
Manchmal braucht das Nachdenken ja eine Zeit, bis es funktioniert. Als sie aber dann in der Kirche von ihrer Banknachbarin erfahren hat, dass der Xaver gestern auch schon auf der Eiche saß und wohl auch die ganze Nacht da oben verbracht hatte, da fiel ihr auch die Hängematte ein. Über die hatte sie vorher gar nicht nachgedacht. Weil sie hatte da ja vor lauter Eile gerade keine Zeit, darüber nachzudenken. Aber in der Kirche hatte sie Zeit. Und als sie ihre Gedanken fertiggestellt hatte, über den Xaver und seine Hängematte, da war sie sich plötzlich ganz sicher, dass es auch für den Xaver nicht normal war, auf einem Baum zu übernachten.
Nachdem der Gottesdienst aus war, informierte sie daher den Fischer Albert von dem erwähnenswerten Vorfall. Der Fischer Albert ist der Lokalredakteur vom hiesigen Tagblatt und ist immer recht froh, wenn die Trautmannsdorfer Marianne ihm von den Geschehnissen in Augsee berichtet. Denn die weiß immer Sachen, wo man meint, die gibt‘s gar nicht. Weil sonst gibt‘s in Augsee ja weniger Berichtenswertes. Außer dem Dorffest vielleicht, denn da hat‘s meistens einen Spaß genauso wie einen Ärger. Und das mögen die Leute dann ganz gerne lesen.
Noch bevor der Xaver in der Zeitung stand, versammelten sich also an diesem Sonntag Vormittag die ersten Augseeer um die Eiche am Dorfplatz.
Der Fritz lädt gleich, nachdem sich der Vitus sein Bier bei ihm geholt hat, einen Kasten Bier auf einen Handwagen und mischt sich damit unter die Menge. Denn als Kirchenwirt-Wirt weiß er ganz genau, dass die Leute nach der Kirche ihren Frühschoppen brauchen. Und nach einer halben Stunde holt er zwei neue Kästen.
„Weißt Vitus, in einen kleinen Kopf, da passt halt auch nur ein kleines Hirn hinein“
Xaver Saumberger ist dreiundsiebzig Jahre alt und lebt seit seiner Geburt hier in Augsee. Früher hatte er am Rande des Dorfes eine kleine Landwirtschaft. Aber die hat er vor vielen Jahren schon aufgelassen. Die Tiere und ein paar Felder hat er verkauft, ein paar andere Felder und Wiesen sind verpachtet. Seither lebt er mit seiner Frau Hilde in dem Sacherl und kommt ganz gut zurecht. Finanziell und so. Denn Hilde und Xaver sind immer schon ein genügsames Ehepaar gewesen.
Der Max, ihr Sohn, lebt schon lange in München. Dort hat er seine Frau, die Lisa, kennengelernt, und dort ist er dann auch geblieben. Seither sehen sie sich nur noch selten. Denn der Max hat keine Zeit, nach Augsee zu fahren und der Xaver keine Lust, nach München zu fahren. Die Hilde hätte zwar Lust, traut sich aber alleine nicht.
Dass der Xaver da nicht hinfahren will, das liegt jetzt aber gar nicht so sehr am Max, „Der wär‘ mir wurscht“, sagt er immer. Aber die vielen Autos und die vielen fremden Menschen, die immer irgend etwas einkaufen müssen oder andere ganz wichtige Sachen machen müssen, die machen den Xaver ganz nervös. Und die vielen hohen Häuser und die Züge, die unter dem Boden fahren müssen, weil oben gar so viele Autos fahren und die Häuser stehen und die Leute gehen: Dem Xaver gibt‘s da von allem zu viel. Sogar Wirtshäuser gibt es so viele, dass man, wenn man da am Abend mal in eins reingeht, am nächsten Tag gar nicht mehr wissen kann, in welchem man eigentlich war.
Einmal, vor einigen Jahren, als der Max wieder einmal Geburtstag hatte, besuchten Hilde und Xaver ihn und seine Lisa in München. Mit dem Zug fuhren sie vom benachbarten Sonnberg nach München. Sonnberg, drei Kilometer von Augsee entfernt, ist ja auch schon eine Stadt. Aber die hätte leicht im Münchner Hauptbahnhof Platz, meint der Xaver immer.
Als sie nach eineinhalbstündiger Fahrt am Münchner Hauptbahnhof vom Zug ausgestiegen waren, da war der Xaver gleich recht verwirrt. Wegen der vielen Leute, den vielen Zügen, den vielen Treppen und wegen dem, dass er nicht wusste, wie‘s jetzt weitergehen soll.
Er wusste zwar, dass die U-Bahn unter dem Boden fährt, aber nicht, welche Treppe denn nun die richtige ist, um zum richtigen Zug hinunterzukommen. Und als sie dann endlich unten waren, da wussten die Hilde und er nicht, welche Bahn jetzt nach Milbertshofen fahren würde. So musste er also andere Leute fragen. Fremde Leute findet der Xaver aber verwirrend. Vor allem, wenn sie kein richtiges Bayerisch sprechen, weil dann versteht er sie auch noch schlecht.
Jedenfalls war der Xaver schon so nervös, dass er in der Folge den ganzen Weg vom Hauptbahnhof bis raus nach Milbertshofen bei jeder U-Bahnstation aussteigen musste, um seine Blase zu entleeren. Und die Hilde musste auch aussteigen damit sie mit ihm wieder die nächste Bahn nehmen konnte.
Zum Feiern hatten sie dann natürlich nicht mehr viel Zeit. Also haben sich alle ein wenig beeilt mit dem Feiern. Doch als er mit seiner Hilde wieder nach Hause fahren sollte, da wollte der Xaver nicht. Die Hilde und der Max und die Lisa hatten große Mühe, ihn davon abzuhalten, dass er zu Fuß nach Hause geht.
Xavers knochiges Gesicht mit der etwas zu großen Nase ist das ganze Jahr über braun gebrannt und wirkt ein wenig verwittert mit dem grauen, stoppeligen Bart. Die weiß-grauen Haare sind zwar nicht lang, aber wuscheln recht üppig über Xavers Schädel und lassen längst noch keinen Blick auf seine Kopfhaut zu. Seine sehnigen Arme und Beine sind dünn und auch ein wenig faltig, aber er kann immer noch recht kräftig zupacken, mit den Armen. Und auf den Beinen steht er meistens auch noch recht stabil. Beim Maßkrugstemmen, beim Augseeer Dorffest zum Beispiel, da kann ihm auch heute noch keiner das Wasser reichen. Fast fünf Minuten hält er den Zweieinhalb-Kilo-Krug am ausgestreckten Arm in der Waagrechten, bevor er ihn austrinkt.
Beim Dorffest und öfter mal im Biergarten beim Kirchenwirt, da mag der Saumberger Xaver schon mit dem einen oder anderen ein wenig zusammensitzen. Nur nicht zu oft, und nur mit Leuten, die er schon kennt. Xaver redet nicht viel aber schimpft ganz gerne. Vor allem über den Bürgermeister. Mit dem hat er vor ein paar Jahren auf dem Dorffest einmal heftig gestritten, infolge dessen ihn der Bürgermeister einen Troglodyten schimpfte. Und das kann der Xaver gar nicht haben, wenn einer beim Beschimpfen nicht mal verständlich bayerisch spricht. Denn für den Xaver gründet die bayerische Streitkultur darauf, dass ein Wort das andere gibt. Das müssen Sie sich dann so vorstellen: Wenn jetzt der Bürgermeister den Xaver zum Beispiel einen Esel geschimpft hätte, dann hätte der Xaver zum Bürgermeister gesagt:
„Du Ochs‘!“.
Weil der Ochse ist ja ein größeres Rindvieh als der Esel. Also hätt‘s dann weitergehen können mit dem Beschimpfen. Jetzt hat aber der Bürgermeister den Xaver einen Troglodyten genannt. Also hätte der Xaver den Bürgermeister zum Beispiel einen dicken Homunculus schimpfen müssen. Dann hätt‘s wieder gepasst. Aber der Xaver wusste ja nicht was ein Troglodyt ist. Und wenn du das nicht weißt, wie sollst du dann auf einen dicken Homunculus kommen? Also hat der Xaver den Bürgermeister einen dicken Deppen genannt und ist heimgegangen.
Der Xaver ist auch kein Umweltschützer. So was braucht‘s in Augsee auch gar nicht. Das kleine Dorf mit seinen zwei Wirtshäusern liegt im südöstlichen Bayern, umgeben von hügeligen Wäldern und durch den Inn vor dem benachbarten Österreich geschützt. Da ist die Umwelt eh in Ordnung. Das merkt man schon an den riesigen, uralten Kastanienbäumen im Biergarten beim Kirchenwirt. Und an der über 250 Jahre alten Eiche am Dorfplatz.
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