»Ich habe dir tausendmal gesagt, du sollst ihn nicht in unsere Wohnung lassen, ich habe dann wieder die ganze Arbeit. Ich komme später, bis dahin ist der Köter raus und Henry am besten gleich mit.«
Wütend legte sie auf und sah Paul an. Ein Lächeln versuchend erklärte sie ihm, dass er mit seiner Frage nach der Wohnung sie daran erinnert hatte, ihrer Mitbewohnerin etwas auszurichten. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, dass deren Freund mal wieder in der WG herumlungerte und mit ihm dessen Hund, den Nina auf den Tod nicht ausstehen konnte.
»Den Freund oder den Hund?«
»Beide«, seufzte Nina.
»Henry, der Freund meiner Mitbewohnerin, hängt den ganzen Tag nur rum, studiert im 18. Semester irgendwas, hasst regelmäßige Arbeit und liegt seiner Freundin, besser unserer WG ständig auf der Tasche. Dazu kommt, dass er einen ebenso räudigen Hund dabei hat, der glaubt, unsere Wohnung sei sein Spielplatz und auch vor den Privaträumen nicht Halt macht. Ziehe nie in eine WG, man hat nur Ärger.«
»Ich wohne in einer, aber bei uns hat keiner einen Hund oder feste Freundin, die bei uns rumlungern könnten«, zwinkerte Paul ihr versöhnlich zu. Nina schien ehrlich wütend, und das gefährdete seine Abendplanung.
»Jetzt lass uns mal an was anderes denken, und wenn du mich später zu dir auf nen Kaffee einlädst, können wir ja gemeinsam bei euch aufräumen.«
»Soweit kommt’s noch«, ließ ihn Nina im Unklaren, ob sie damit nur sein Putzangebot meinte. Stattdessen blätterte sie in der Speisekarte des Biergartens.
»Hunger?« Nina nickte. »Wie war das noch mal mit deinem Henkersmahl? Ist das weit von hier?«
Auch sie hatte die angespannte Stimmung gespürt und wusste, dass Paul für ihren Ärger nichts konnte. Sie suchte seit einiger Zeit eine alternative Bleibe, doch die meisten Apartmentwohnungen waren zu teuer und von Wohngemeinschaften hatte sie genug. Ihre Eltern waren zudem der Meinung, sie könne wie ihre Schwester zuhause wohnen, weshalb Nina keinen Mietzuschuss erhielt, ein Dauerstreitthema. Aber sie wollte Paul auch noch nicht am ersten Abend mit zu sich nehmen.
»Nein, ein paar Stationen mit der Straßenbahn oder 30 Minuten gemütlich zu Fuß.«
»Lass uns laufen«, entschied sie und erhob sich.
Gegen 19 Uhr kamen sie im Henkersmahl an. Das Lokal war im Stil einer Haftanstalt mit am Boden befestigten Stahlrohrstühlen und an die Wand klappbaren Resopaltischen spartanisch eingerichtet. Zusätzlich gab es eine gefängnisgerechte Essensausgabe mit entsprechenden Blechschüsseln oder Tabletts, auf denen Vertiefungen für die einzelnen Speisen vorgesehen waren.
»Fast wie in der Mensa«, schmunzelte Nina beim Anblick dieses für ein Restaurant ungewöhnlichen Geschirrs und der hinter der Ausgabe aufgereihten Töpfe und Kasserollen. Nackte Glühbirnen baumelten von der Decke über den Tischen und gaben müdes Licht. Neonröhren oberhalb der Essensausgabe unterstrichen die Tristesse. Vereinzelt saßen leise tuschelnd Gäste an den Tischen, zwischen denen zwei Kellner in Wärterkleidung patrouillierten und gelegentlich lauter sprechende Gäste anherrschten, sie sollen leiser reden, man wäre hier nicht zum Vergnügen. Nina hob irritiert die Augenbrauen und schaute unsicher zu Paul herüber, der sie grinsend durch das Lokal schob.
»Das besondere Glanzstück hier«, versuchte er Nina vom ersten Eindruck abzulenken, »ist die Green Mile Bar, zu der man am Ende auf dem Weg zum Klo kommt. Falls dir mal nach etwas wie Endstation , Kopfschuss oder Gnadenerlass ist, wärst du hier goldrichtig. Manchmal arbeite ich auch dort.«
Nina folgte ihm langsam. Die Bar selbst ähnelte dem Besucherraum eines Gefängnisses, wo die Gäste einander durch perforierte Glasscheiben getrennt gegenüber saßen, die Getränkekarte an den Platz gekettet war und man die Bestellung per Telefon aufgab. Der andere Teil der Bar bestand aus Stehplätzen ohne Glasscheibe, wo man dem Keeper seine Bestellung ins Ohr schreien musste, denn immer wenn eine Flasche leer war, ging eine Sirene an, und die Gäste konsumierten eine Menge.
An den Preisen der Bar lag das nicht, denn die waren alles andere als spartanisch, doch je übler Bernd und Bones ihre Gästen behandelten, desto mehr stieg die Stimmung und der Konsum. Die kellnernden Wärter trugen zur Uniform Schlagstöcke, Lederhandschuhe und Springerstiefel. Der Gast erhielt, was der Kellner für ihn bestimmte. Widerspruch wurde nicht geduldet, ebenso wenig Tischreservierungen. Diskussionen führten zum sofortigen Lokalverbot, zumindest für den jeweiligen Abend. Am Eingang sortierte ein finsterer Blockwart bereits ungebetene Gäste aus und wies diesen wortkarg die Tür, ausnahmslos und ohne Ansehen der Person.
Das mehrte den Ruf, und das Henkersmahl avancierte rasch zu einem Geheimtipp der Stadt. Die wochentägliche Auswahl an Speisen wechselte, doch mehr als fünf waren es selten, in aller Regel Bodenständiges, wie Bockwurst mit Kartoffelsalat, Gulaschsuppe, Schnitzel mit Pommes oder zu weich gekochte Nudeln. Soße war Glückssache. Doch hier passte der Preis zum Niveau, denn anders als die Cocktails an der Bar war das Essen billig.
Nicht so am Wochenende. Da gab es Essen a la Card, das den letzten Gerichten zum Tode verurteilter Strafgefangener oder Vorgaben aus berühmten Kriminalgeschichten nachempfunden war. Ein Abend der Woche gehörte der städtischen Tafel, und zumeist Knast erfahrenes Publikum füllte die Zellen, Kerkernischen oder die Green Mile. Lauthals wurden da Geschichten aus diversen Haftanstalten und deren Küchen zum Besten gegeben. Wertvolle Informationen, die Bones sammelte und gelegentlich in die Mittagskarte einfließen ließ.
In unregelmäßigen Abständen veranstaltete das Lokal so genannte Freigängerabende, an denen ausschließlich, zumeist lokale Prominente und solche, die sich dafür hielten, hoffen durften, vom Einlass erkannt und inhaftiert zu werden. Vor dem Lokal war ein bis zur Straße reichender Käfiggang aufgestellt, an dem die VIPs vorfahren konnten, um dort von zwei Hilfsschergen aus dem Auto gezerrt und zum diensthabenden Einlasswärter eskortiert zu werden. Dieser entschied mit einem stummen Wink seines abgespreizten Daumens über die Schulter ins Lokal oder im Falle des Nichterkennens zu einer schmalen Seitentür des Käfigs. Durch diese wurde der gedemütigte Möchtegernprominente in die johlende und gaffende Menge von Autogrammjägern, Neugierigen und Medienvertretern geschoben. Kostenlose Publicity. Als besonderen Gag bot das Lokal jedem Gast, der in Sträflingskleidung erschien, ein Freigetränk an. Das war an den Promiabenden eine echte Ersparnis.
Paul und Nina kamen an einem ganz gewöhnlichen Dienstagabend im Henker an, fanden ihren gegen die Gewohnheit des Lokals reservierten Platz und harrten der Dinge, die da kommen mochten.
»Was isst man hier am besten?«, frage Nina unsicher.
»Das suchen die schon für dich aus, aber allzu wählerisch darfst du dabei nicht sein.«
Dass er dabei übers ganze Gesicht lachte, half jedoch wenig gegen Ninas mulmiges Gefühl. Bones hatte Paul zuerst gesehen und wies zwei der Kellner an, ihm die Spezialbehandlung angedeihen zu lassen. Diese bestand darin, sich einen überraschten Gast, gleich einem rebellierenden Insassen, zu schnappen, ihm Häftlingskleidung überzustülpen und in Hand- sowie Fußschellen auf einen elektrischen Stuhl inmitten des Raumes zu schleifen und zu verkünden, dass die letzte Mahlzeit des Delinquenten aufs Haus ginge. Danach durfte sich der Gast, von Hand- und Fußschellen befreit, wieder zurück an seinen Platz begeben und sich von diesem Übergriff erholen. Seine Gäste aßen und tranken an diesem Abend ebenfalls umsonst.
Dieses Mal erwischte es Paul zum Entsetzen von Nina, die eingangs nicht wusste, dass es sich lediglich um einen groben Scherz handelte. Erst als Bones an den Tisch der Beiden trat, sich vorstellte und mit ihnen anstieß, konnte auch Nina über diesen Gag lachen. Mittlerweile hatten die Wärter zwei gefüllte Blechnäpfe auf den Tisch knallen lassen. Es gab Schupfnudeln, Erbsensuppe und Bier aus schartigen Gläsern. Auf die Frage von Paul, wieso Bones ihn sehen wolle, winkte dieser ab und vertröstete ihn auf die Bar, an der er die Paul und Nina später erwartete.
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