Die Wirklichkeit überholte Paul. Die Geburtstagsfeier wurde abgesagt, das Konzert besuchte er mit irgendeinem Freund, und Pia verzog im Herbst zum Studieren ans andere Ende der Welt, in einen 250 km von Paul entfernten Ort. Das Gefühlschaos ging vorüber, doch Narben blieben. In seinem Film hätte er die Zuschauer nicht um das Happy End betrogen. So dachte Paul über eine Karriere als Drehbuchautor nach. Nachdem er seit Jahren fast jeden Kinofilm sah, den die Traumfabrik über seiner Stadt ausschüttete, wusste er um den Mangel an Tiefe, Emotion und Fantasie. Er vermisste Spannung und Unterhaltung, Humor und Leidenschaft. Er hasste die Filme, die er sich allwöchentlich ansah, nur um nicht vor seinem Telefon zu sitzen, wissend, dass es nicht klingeln würde. Und er wusste, dass er es besser konnte. Nächtelang grübelte er über einer Idee, mit der er sich und der Welt beweisen konnte, dass mehr als ein schüchterner Einzelgänger in ihm steckte. Das Drehbuch wurde nie fertig, der Film in seinem Kopf nie gedreht, doch Paul hatte sein Refugium gefunden. Er begann Kunst zu studieren.
Die erste Hürde begann mit der Erstellung der für die Einschreibung erforderlichen Mappe. Paul hatte keine Ahnung, was die Universität von ihm erwartete, Skizzen, Naturstudien, Bewegung und Akte, Farbkompositionen und Materialstudien. In ihm gärten Ideen von Abstraktion, Kontrasten und Provokation. Es erforderte drei Anläufe, bis eine Jury ausgerechnet im 300 km entfernten Gottesacker so viel Mut bewies, ihm eine Chance zu geben. Zwar unterblieb der gefürchtete Hinweis nicht, man suche keinen Künstler, sondern eine geeignete Basis fachlicher Ausbildung, letztlich aber hielt er die Immatrikulationsurkunde in den Händen. Er war angekommen, ein Kreativer in den Hallen der Kunst, in kalten, seelenlosen Räumen, die sich nur durch die fehlenden Gitter vor den Fenstern von psychiatrischen Anstalten unterschieden. Die Selbstinszenierung der ihn ausbildenden Lehrkräfte verstärkte Pauls Eindruck, dass in dieser Anstalt die Insassen das Sagen hatten. Die ersten Monate waren kräftezehrend. Es misslang ihm jeder Versuch, aufs erste Mal die in ihn gesteckten Erwartungen dieser Insassen zu erfüllen. Er war meilenweit davon entfernt, sich in den Versuchen, ein angepasster Student zu sein, wieder zu finden. Es war eine Tragik in Gelb, ein Martyrium in Blau, ein Waterloo in Rot. Grün kam nicht vor, und schwarz war die Hoffnung, je seinen Bildern eine Seele einzuhauchen.
Während dieser Zeit lernte Paul Nina kennen. Sie trafen sich das erste Mal in einer Kunstausstellung. Sie arbeitete dort, und er suchte nach Inspirationen. Nein, er floh vor der Leere seiner Studentenbude, den Ateliers, dem Gefühl, seine Ideen begraben zu müssen. In Gedanken versunken stand er vor vier blauen, tanzenden, nackten Mädchen, die gesichtslos Anmut verströmten. Der Maler hieß Macke und hätte Gaugin heißen müssen. Doch Paul ahnte noch nicht, was diese Erkenntnis für ihn bedeuten würde. Es war sein Fenster, das sich für die verschlossene Tür seiner bislang unerfüllten Liebe öffnete.
Dahinter stand sie, Nina. Sie jobbte als Aufsicht im städtischen Kunstmuseum. Eine von vielen, die sich in den zugigen Räumen die Beine in den Bauch standen und denen es untersagt war, sich zu setzen. Dass einer die Bilder oder Plastiken entwenden würde, war unwahrscheinlich. Eher, dass Kleinkinder oder ergraute Kunstverständige fahrig mit den Händen die Struktur des Bildes zu begreifen versuchten.
Nina studierte Psychologie. Ihre praktischen Erfahrungen sammelte sie zwischen 13 und 18 Uhr in den Sälen zwischen Renaissance und Naturalismus. Ihre Favoriten waren die Herren mit langen Schals, weiten Mänteln, ergrautem hohen Haaransatz und zu engem Schuhwerk. Oder die Schulklassen der Jahrgangsstufen sechs bis acht, die zwecks Erfüllung ihres kulturellen Lehrplans gelangweilt und unwissend an den Kulturschätzen des Alten Europas vorbeischlurften. Sehr zum Leidwesen der beschalten Herren. Junge Damen erfuhren erste Realitäten bei dem vergeblichen Versuch, alte Meister abzuzeichnen. Junge Herren hingegen verliefen sich nur selten in diese heiligen Hallen der Kunst. Einer der wenigen war Paul. Einer von den stillen Kunststudenten, die meist mit einem dicken Lehrbuch vergleichend von Bild zu Bild wanderten und von einer Karriere als Baselitz oder Gursky träumten.
Nina hasste Baselitz und liebte Paul, doch das wusste sie damals noch nicht. Damals waren die Tage noch lang und die Stunden langweilig. Und so kam sie auf eine Idee, die später ihre Semesterarbeit krönen sollte. Das suggestive Erlebnis fiktiven Kunsterlebens , so das sperrige Thema, der Inhalt war trivialer. Nina hatte beobachtet, dass die meisten Besucher erst nach dem Lesen des Künstlernamens ehrfurchtsvoll zurücktraten oder müde weitergingen. Dieses Phänomen brachte sie auf die Idee, hier das wahre Bildungsbürgertum von denen zu trennen, die lediglich zum Aufwärmen kamen. So vertauschte sie die Bildtitel und schuf Allianzen italienischer Maler mit holländischen Landschaften, barocker Frauen von kubistischen Künstlern und deutschen Biedermeier von Popartisten. Und die Leute waren ergriffen. Sie bestaunten einen Rubens aus dem Jahr 1815, verehrten einen Klee zu einem Bild von Vermeer und gingen an einem Caravaggio nichts ahnend vorüber.
Es war nur ein Spaß, den sich Nina mit den Besuchern machte, inniglich hoffend, dass keiner der anderen Museumswächter an den Tagen, an denen sie nicht arbeitete, dieses bemerken würde. Doch zu ihrer großen Überraschung fiel es keinem auf. Außer Paul. Paul war es gewohnt, seiner Kurzsichtigkeit wegen nahe an die Bilder heran zu treten, ohne jedoch auf Titel und Künstlername zu achten. Doch trotz mancher Ablenkung konnte selbst Paul es nicht verhindern, das eine oder andere seiner Vorlesungen zu behalten und wunderte sich, dass ein Peter Breughel eher einem Magritte als einem Hieronymus Bosch ähnelte. Nina wirkte irritiert, als er sie darauf ansprach und bat ihn um Verständnis, wenn bei einer Umdekoration mal ein Titelschild versehentlich hängen blieb. Sie versprach, sich umgehend darum zu kümmern. Paul wies sie in den kommenden Wochen noch auf gut ein Dutzend Verwechslungen hin, bis es ihr zu bunt wurde und sie ihn auf einen Kaffee einlud. Ihre Pause hatte gerade begonnen.
So trafen sich Nina und Paul, der sich verlegen fragte, wieso ausgerechnet ein Mädchen wie Nina mit ihm einen Kaffee trinken ginge. Sie redete wie ein Wasserfall, während er verträumt an ihren Lippen hing. Nina bemerkte sein Schweigen kaum. Erst als er auf eine ihrer Fragen nicht antwortete, schaute sie ihn irritiert an.
»Träumst du?«
»Wer ich?«, rief sich Paul zurück in die Gegenwart und sah sie überrascht an.
»Ich fragte mich gerade,«, erklärte er sein Schweigen,
»wen es interessiert, was man in einer Kunstausstellung sieht, als mir die Frage selbst dumm vorkam.«
»Nein, genau das ist die Frage. Die meisten Leute gehen schlicht an all den Bildern vorbei. Kultur wird abgehakt.«
»Aber warum, meinst du, gehen die Leute in eine Ausstellung, wenn nicht der Kunst wegen?«
»Weil es regnet, Besuch unterhalten sein mag, Singles auf der Suche nach Anschluss sind, oder es schlicht schick ist, am Montag seinen Kollegen zu erzählen, dass man am Wochenende im Museum war.«
»Nicht dein Ernst?« Paul sah sie schmunzelnd an. Sie lachte zurück. Er begann ihr zu gefallen.
»Nein, aber ein wenig mögen auch das Gründe sein. Und vielleicht reizt es manchen auch, dem Original gegenüberzustehen, das sonst als Druck über der Couch Staub ansetzt.«
»Naja, die Wenigsten sammeln Originale. Aber keinem fiel auf, dass seine Kopie zuhause hier unter einem anderem Namen hängt?«
»Nein, weil die meisten wohl weder Titel noch Maler des Bildes kennen und sich schon gar nicht für Maltechnik und Material interessieren. Andererseits sahen die, die sich die Mühe machten, die Bildunterschriften zu lesen, einen Miro hängen, wo sie an einem Jansen vorbeigegangen wären und blieben stehen. Umgekehrt gilt das Gleiche.«
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