Und damit hatte sie auch vollkommen die Wahrheit gesprochen. Heute muss ich beim Schälen meiner Zwiebeln doch noch hin und wieder an sie denken.
Vom Hof aus konnten wir in unseren Keller kommen. Hier waren ein paar Hühner untergebracht worden, die uns schöne frische Eier legten.
Als Haustier besaßen wir in den ersten Jahren noch Mutters Lieblingstier: Schnippi, einen Kurzhaardackel. Weil wir aber so viele Geschwister geworden waren, mussten ihn meine Eltern zu einem älteren Ehepaar in gute Hände abgeben. Dort ist er leider später an der Zuckerkrankheit eingegangen, was meine Mutter und uns sehr traurig machte.
Hin und wieder durfte ich vormittags auch allein zu meinem Vater in das Rathaus gehen. Er saß in einem großen Bürozimmer, in dem noch mehr Tische und Stühle vorhanden waren. Er freute sich immer, wenn ich dort bei ihm auftauchte. Dann brachte er mir viel Papier und Buntstifte und setzte mich an einen freien Tisch. Mit Begeisterung malte ich dort die Blätter voll. Einige Bögen davon mit dem Datum darauf besitze ich noch heute.
Dort beschäftigte er mich so lange, bis er mittags oder abends nach Hause gehen konnte. War das schön!
Und an einem Nachmittag ging Mutter nicht zu Oma und Opa Lu, sondern in das Schwimmbad in der Ihna. Es war draußen so herrlich warm, dass mir Mutter mein Lieblingskleidchen anzog. Es war ein gelbes Hängerchen mit Puffärmeln, einem weißen Krägelchen und vielen kleinen bunten Kullern auf dem gelben Stoff.
Es muss Sonntag gewesen sein; denn Vater kam mit uns mit. Weil ich noch nicht schwimmen konnte, durfte ich nur dort in das Wasser gehen, wo es sehr flach war. Mutter passte sehr gut auf. Aber wie sehr staunte ich, als ich die großen Männer und Frauen so frei im Wasser schwimmen sah. Das wollte ich später auch unbedingt lernen, nahm ich mir vor.
In diesem Sommer bekam ich Masern und musste das Bett hüten. Draußen schien die Sonne. In der Stube war es sehr warm. Mutter hatte die Gardinen vor die Fenster gezogen, weil mir die Helligkeit in den Augen schmerzte. Mutter stellte mir ein kleines Betttischchen über das Oberbett, stützte mit einem Kissen meinen Rücken ab und gab mir herrlich gezuckerte Erdbeeren. Danach legte sie mir Papier und Buntstifte hin. Bei dieser Beschäftigung vergaß ich alles um mich herum, bis ich müde wurde und zum Schlafen hingelegt wurde.
Als ich wieder gesund war, gingen Vater und Mutter mit uns sonnabends und sonntags gern in unseren Garten. Dazu mussten wir wieder bis zum Eisturm, an ihm rechts unter den hohen Bäumen des Blücherplatzes quer zur Jungfernbrücke über die Ihna gehen. Anstatt links den Weidensteig zu nehmen, gingen wir geradeaus quer über den Bismarckplatz zur Wiekstraße. Hier hinten befand sich unser Grundstück, wo Vater später ein Haus für uns bauen wollte. Bis jetzt hatte er das Grundstück vorne mit Blumen und Gemüse und dahinter mit vielen Obstbäumen bepflanzt.
Heute zeigte er uns die neue Gartenlaube, die er gebaut hatte. In ihrem Innern befanden sich rundherum Bänke. In der Mitte stand ein Tisch, von dem wir aßen. Meine Lieblingsblumen waren die weißen Phloxstauden mit dem roten Punkt in jeder Blütenmitte. Und während ich mich gerade an einer Blütendolde erfreute, kam eine für meine Verhältnisse große Heuschrecke auf meinen Fuß gesprungen und biss mich. Mit lautem Wehklagen suchte ich Hilfe und Schutz bei Vater und Mutter. Seitdem habe ich um diese Tierchen immer einen großen Bogen gemacht.
An diesem Tag war Oma Blücher auch zu uns in den Garten gekommen. Sie war eine resolute alte Dame und fing einen Maulwurf, der in unserem Garten seinen Maulwurfshügel aufgeworfen hatte. Kurz entschlossen tötete sie ihn und befestigte ihn auf einer Stange, die sie in dem Garten aufstellte.
„Warum machst du das denn, Oma?" fragte ich sie.
Sie antwortete mir mit felsenfester Überzeugung: „Wenn andere Maulwürfe diesen toten Maulwurf sehen und merken, dass er nicht mehr lebt, dann kommt keiner mehr in unseren Garten, um ihn umzuwühlen."
Und dann nach einer kleinen Pause erzählte sie mir: "Früher habe ich alle gefangenen Maulwürfe auch noch abgezogen und die kleinen Felle gegerbt. Zum Trocknen heftete ich sie an die innere Kellertür. Daraus ließ ich mir dann eine Pelzjacke anfertigen."
Das imponierte mir sehr.
Gegen Abend gingen wir wieder langsam nach Hause. Nach dem Abendessen und vor dem Abendgebet sangen wir noch mit Vater und Mutter dieses Lied:
Weißt du, wie viel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt Du, wie viel Wölkchen ziehen
weit hinüber alle Welt.
Gott, der Herr, hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl,
an der ganzen großen Zahl.
Weißt Du, wie viel Mücklein spielen
in der heißen Sonnenglut?
Wie viel Fischlein auch sich kühlen
in der hellen Wasserflut?
Gott, der Herr, rief sie mit Namen,
dass sie alle ins Leben kamen,
dass sie nun so fröhlich sind,
dass sie nun so fröhlich sind.
Weißt Du, wie viel Kinder frühe
stehen aus ihrem Bettlein auf?
Dass sie ohne Sorg und Mühe
fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
seine Lust und Wohlgefallen,
kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.
Bald waren wir in einen tiefen und gesunden Schlaf gefallen.
Das Haus Blücherstraße 12A beherbergte noch mehr Familien. Über uns wohnte der Studienrat Krockow, darüber der Staatsanwalt Weiß und ganz oben Frau Puttlich. Uns gegenüber in der Blücherstraße wohnte eine sehr dicke Frau. Sie hieß Frau Hackelberg. Wenn bei uns mal der Strom ausfiel, sagte Vater immer: „Frau Hackelberg sitzt auf der Leitung."
Darüber musste ich immer sehr lachen.
Schräg gegenüber in der Blücherstraße Nr. 7 wohnte Tante Rave. Bevor meine kleine Schwester Bärbel geboren wurde, hatten wir dort unter ihr gewohnt. Tante Rave war eine von Mutters besten Freundinnen. Sie hatte uns Kinder immer sehr geliebt.
Einmal habe ich sie ganz allein besucht. Zu ihr musste ich Treppen steigen. Es war vormittags. Sie hatte gerade zwei für meine Verhältnisse große Fische gekauft.
„Komm mit mir in die Küche", sagte sie, nahm mich mit dorthin und nahm die Fische aus. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Bei uns wurde nämlich nie Fisch gegessen.
Sie trennte die Schwimmblasen aus den Fischkörpern, zeigte sie mir und sagte:
„Sieh mal, Herminchen, in diesen beiden Blasen befindet sich Luft. Nur dadurch können die Fische im Wasser beim Schwimmen in der richtigen Lage schweben. Platzt einmal aus irgendeinem Grund eine Blase, muss der Fisch elend sterben."
Tante Rave nahm mich gern auf ihre Knie und spielte mit mir Hoppe Reiter. Dazu sagte sie zwei verschiedene Verse auf. Der erste lautete so:
Hoppe, hoppe Reiter.
Wenn er fällt, dann schreit er.
Fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben.
Fällt er in das grüne Gras,
macht er sich die Höschen nass.
Fällt er in den Sumpf,
macht der Reiter plumps!
Aber der zweite Vers ging ganz anders. Den kannte sie von ihrer Großmutter, bei der sie aufgewachsen war. Tante Rave war über vierzig Jahre älter als ich. Wenn wir dann das Alter von ihrer Großmutter dazuzählen, kommen wir ungefähr auf die Zeit, in der dieser Vers immer gesprochen wurde:
So reiten die Herren
mit blanken Gewehren,
mit blanken Pistolen.
Sie reiten nach Polen
und wollen unserer kleinen Hermine
eine neue Puppe holen.
Und die dummen Bauern hinterdrein
auf ihren Zuckelpferdchen.
Backappel, Backappel, Backappel runter gefallen!
Jedes meiner Geschwister und ich besaßen einen kleinen Porzellanvogel, der mit einer Spange an der Wohnstuben-Übergardine befestigt war. Meiner war ein ganz bunter und hübscher kleiner Zeisig.
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