Der Professor füllte die beiden Katzennäpfe nach den Vorlieben der Stubentiger. Sammi fraß neben Thunfisch, den sie sehr liebte, und einer Reihe von Leckerbissen nur exquisites Futter aus kostspieligen kleinen Dosen mit französischer Aufschrift. Sie rührte allein »Mousse« an – eine luftig-lockere Breizubereitung, die der Hersteller »Pastete« nannte. Alle Sorten, die Bröckchen enthielten, verschmähte sie; denn sie leckte ihr Essen auf und ließ alles liegen, was die Zunge nicht ins Maul befördern konnte.
Die Zähne benutzte sie nur in Ausnahmefällen – wenn es warmes Hühnerfleisch, den Fettrand von gekochtem Schinken oder geräucherte Makrele gab. Dann aber brach das Raubtier durch, und Sammi packte und schüttelte die »Beute« wie eine Wildkatze einen frisch gefangenen Vogel.
Aber sie war sehr pflegeleicht. Der Professor musste nur daran denken, »Mousse« und Katzenkuchen vorrätig zu halten – und ihre Mahlzeiten – mit Ausnahme der ersten Portion aus einer neu geöffneten Dose – mit etwas Sonnenblumenöl anzurühren. Darauf bestand Sammi, die ansonsten sehr bescheiden war und pro Portion selten mehr Pastete vertilgte als zwei gehäufte Teelöffel.
Dabei war sie keineswegs dünn. Schlichtkohl führte Sammis Zurückhaltung am Futternapf und ihre Rundlichkeit auf einen überproportionalen Katzenkuchen–Verzehr zurück oder auf ihre altersbedingte Bequemlichkeit. Immerhin war seine Süße schon 14. Wenn er daran dachte, dass sie das zur Hundertjährigen machte, wenn man wie bei Hunden ein Tierjahr sieben Menschenjahren gleichsetzte, fühlte er Wellen panischer Verlustangst, aber auch Hochachtung und Bewunderung. Denn man sah Sammi ihr Alter nicht an. Sie hätte auch fünf sein können. Gab es bei den Menschen Greisinnen, mit einem Jahrhundert auf dem Buckel, die wie fünfunddreißig wirkten?
Pischti war genauso wählerisch wie Sammi, obwohl er kein Feinschmecker war: Er bestand auf der Billigmarke Topic von Aldi, die man ihm möglicherweise im Labor gegeben hatte. Welche Leckerbissen der Kater mochte, wusste der Gelehrte nicht: Utnapischtim schlang sein Futter hastig herunter, wenn er sich alleine glaubte – und verzog sich wieder unters Bett.
Schlichtkohl hatte ihm mehrfach etwas Räucherlachs oder ein Stückchen Hühnerschenkel an sein Versteck gebracht. Das verschreckte Tier hatte zwar einen langen Hals gemacht und interessiert geschnuppert, aber nichts angerührt. Pischtis Misstrauen war unendlich.
Der junge Kater – er war zwischen drei und vier Jahren alt – fraß wie ein Scheunendrescher, war aber mager wie ein äthiopischer Marathonläufer. Der Professor vermutete, dass Sport ihn so schlank erhielt. Pischti war ein Sprinter und Meisterspringer. Er ging nur selten im Schritt durch die Wohnung, sondern rannte meist mit Höchstgeschwindigkeit, und er konnte mit einem Satz aus dem Stand vom Boden auf die Oberkante einer Wohnzimmertür springen.
Der Altorientalist nahm an, dass der Kater vor allem dann »trainierte«, wenn er die Wohnung verlassen hatte. Wahrscheinlich flog er dann wie ein Vogel von der Tür zur Gardinenstange, zum Bücherregal und zurück! Nur gut, dass die Schädelwunde ihn nicht zu behindern schien!
Schlichtkohl füllte die Wasserschälchen und die Brekkies-Näpfe seiner beiden Haustiere auf, fischte Urinknollen aus beiden Toiletten und schaute auf die Küchenuhr: Es war 6.27 Uhr. Es reichte vollkommen, wenn er um kurz vor elf im Institut am Allendeplatz war, überlegte er. Das bedeutete, dass er spätestens um halb elf in der U-Bahn sitzen musste – was wiederum hieß: kurz nach neun Uhr aufstehen.
Er ging ins Bad und blickte in den Spiegel. Ein nettes offenes Gesicht schaute ihn an. Die gerade Nase und die Ohren waren stattlich dimensioniert, aber seiner Größe durchaus angemessen. Die meerblauen Augen blickten freundlich und klug, und obwohl der ein wenig spöttisch geschwungene Mund seine Winkel pessimistisch nach unten bog, sorgten die schönen Lippen, die Lachgrübchen auf beiden Wangen zusammen mit dem wohlgeformten Kinn für einen angenehmen Gesamteindruck. Der Mann sah liebenswürdig aus, kultiviert, sensibel und scharfsinnig. Ein Hauch jungenhafter Schüchternheit sorgte dafür, dass das Gesicht nicht zu gescheit wirkte.
Schlichtkohl schüttelte den kahlen Kopf vor sich selber. Er versuchte zwar, sich objektiv zu betrachten; aber er bewertete stets sein »altes« Aussehen, das er Jahrzehnte lang verinnerlicht hatte, automatisch mit. Jeden anderen würde der Ersteindruck, den sein nackter Schädel erzeugte, daran hindern, sein Gesicht mehr als oberflächlich zu betrachten. Alle würden nur eine Bowlingkugel mit Augen, Mund, Nase und Ohren sehen – und zurückschrecken.
Wem würde auffallen, dass die spiegelnde Glatze, die sich wie die Kugel eines Deorollers wölbte, überhaupt nicht zu dem jugendlich straffen und wohltuend symmetrischen Gesicht passte? Dass es förmlich nach einem Haarschopf, Koteletten und Augenbrauen schrie, nach dem dunklen Schimmer eines unaufhörlich wachsenden Bartes an Wangen und Hals. Und natürlich nach Wimpern.
Der Professor beugte sich vor: Rechts hatte er noch zwei Wimpern, links sprossen drei aus dem Lidrand. Er traute sich nicht, sie zu berühren. Wahrscheinlich waren sie scheintot und würden sofort ausfallen.
Was ein paar tote Keratinfäden – mehr waren Haare ja nicht – ausmachten! Ohne Augenbrauen wirkte seine Stirn viel kantiger, die Augenhöhlen erinnerten an Krater, und die Lider sahen ohne Wimpern entzündet aus.
Mara hatte ihn zwar schon gekannt, als er haariger gewesen war, als man das bei Lehrstuhlinhabern für angemessen hielt; aber sie würde das bald vergessen haben. Oberflächlichkeit war eine der wichtigsten modernen Tugenden. Es war bedeutsamer, gut auszusehen, als intelligent zu sein, und eine gestylte und gepflegte Mähne machte ungleich mehr her als innere Werte. Ein kahler Albert Schweitzer hatte keine Chance gegen einen blond gelockten Brad Pitt.
Mit einem verächtlichen Grunzen wandte sich Schlichtkohl vom Spiegel ab und verließ das Bad. Er griff sich Sammi, die eben aus der Küche in Richtung Wohnzimmer schnürte und ein überraschtes »A!!!« ausstieß, und ging ins Schlafzimmer. Er setzte die Katze auf ihren Platz an seiner Seite und sprang ins Bett. Dann packte er den Wecker und schlug ihn dreimal kräftig auf den Nachttisch.
Das blöde Ding hatte um 6.15 zu Dudeln begonnen, drei Stunden vor der eingestellten Zeit. Wecken zur Unzeit war eine Krankheit, die das kleine 9,90-Euro-Radio in Schüben heimsuchte wie Malaria einen Afrikaner. Bisher hatte jedoch ein wenig sanfte Gewalt immer geholfen, die Mechanik zur Besinnung zu bringen.
Der Altorientalist drehte sich um und nahm seine Katze in den Arm. Er ächzte wohlig. Noch zweieinhalb Stunden Schlaf – welch unerhörter Luxus!
Sammis eisenharte Pfoten, die über ihn hinweg trampelten, rissen ihn aus dem Schlummer. Er schaute auf die roten Digitalziffern: 10.15 Uhr. Der Wecker gab keinen Ton von sich! Entweder war das Ding endgültig kaputt, oder er war an den Lautstärkeregler gekommen, als er es zur Wiederbelebung an dem Nachttisch gehauen hatte. Das gerändelte Plastikrädchen verstellte sich bei der leisesten Berührung, meist auf null.
Mit einem lautlosen Fluch fuhr Schlichtkohl aus dem Bett und in die Kleider. Er klaubte die getragene Wäsche des Vortags – Hemd, Socken und Unterhose – hastig vom Boden auf und scherte sich nicht darum, dass der Slip gleich doppelt falsch saß – links herum und seitenverkehrt. Es ging um Sekunden. Er durfte Mara unter keinen Umständen verpassen!
Mara! Ein Nachgeschmack des Traums fuhr ihm durch die Glieder, verwirrende Erinnerungen an leidenschaftliche Küsse und heißes Glück. Erschreckt drängte er diese Gedanken zurück, versuchte aber, sie auf keinen Fall zu vergessen. Wenn er nicht gerade träumte, war ihm schmerzhaft klar, dass er nicht den Hauch einer Chance bei der schönen Studentin hatte.
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