Er hat mir einen großen Beweis von Mitgefühl gegeben; er verbrannte den Brief, das einzige, was mich wirklich gefährden konnte.
Halt, nicht so voreilig! Dieser Mensch könnte ein größerer Verbrecher sein, als Sie glauben.
Bei meiner Ehre, Sie lassen mich zittern, sagte Dantes; die Welt ist also mit Tigern und Krokodilen bevölkert?
Ha, nur sind die zweibeinigen Tiger und Krokodile gefährlicher, als die andern. Also er hat den Brief verbrannt, sagen Sie?
Ja, und er sagte dabei zu mir: Sehen Sie, es ist nur dieser Beweis gegen Sie vorhanden, und ich vernichte ihn.
Dieses Benehmen ist zu edel, um natürlich zu sein. An wen war der Brief adressiert?
An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron, Nr. 13 in Paris.
Können Sie annehmen, Ihr Staatsanwalt habe ein Interesse an dem Verschwinden dieses Papiers gehabt?
Vielleicht, denn er ließ mich mehrmals, in meinem Interesse, wie er sagte, geloben, mit niemand von diesem Briefe zu sprechen, ja, er ließ mich sogar schwören, nie den auf die Adresse geschriebenen Namen auszusprechen.
Noirtier? erwiderte der Abbé, Noirtier? Ich kannte einen Noirtier am Hofe der ehemaligen Königin von Etrurien, einen Noirtier, der während der Revolution Girondist gewesen war. Wie hieß der Staatsanwalt?
Von Villefort.
Der Abbé brach in ein Gelächter aus. Dantes schaute ihn erstaunt an. Was haben Sie? fragte er.
Alles ist mir jetzt klar. Armes Kind, armer junger Mann! Und dieser Beamte ist gut gegen Sie gewesen? Dieser würdige Mann hat den Brief verbrannt, vernichtet? Dieser ehrliche Lieferant des Henkers ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier auszusprechen? Dieser Noirtier, armer Blinder, wissen Sie, wer dieser Noirtier war? Dieser Noirtier . . . war sein Vater.
Hätte der Blitz zu Dantes' Füßen eingeschlagen und vor ihm einen Abgrund gegraben, in dessen Tiefe sich die Hölle öffnete, es hätte keine raschere, keine niederschmetterndere Wirkung hervorgebracht, als diese unerwarteten Worte. Er stand auf und nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, als wollte er verhindern, daß er zerspringe.
Sein Vater! Sein Vater! rief er.
Ja, sein Vater, der Noirtier von Villefort heißt.
Ein Licht durchzuckte das Gehirn des Gefangenen; was ihm bis dahin dunkel geblieben war, wurde in einem Augenblick klar wie der Tag. Villeforts Worte während des Verhörs, der vernichtende Brief, die fast flehende Stimme des Beamten, der statt zu drohen, zu bitten schien, alles kam ihm ins Gedächtnis. Er stieß einen Schrei aus, wankte einen Augenblick, wie ein Betrunkener, und stürzte dann nach der Öffnung, die aus der Zelle des Abbés in die seinige führte. Oh! sagte er, ich muß einen Augenblick allein sein, um alles zu überdenken. Als er wieder in seinem Kerker war, fiel er auf sein Bett, wo ihn der Schließer am Abend mit starren Augen und zusammengezogenem Gesicht unbeweglich und stumm wie eine Bildsäule sitzend fand. Während dieser Stunden des Nachsinnens, die wie Sekunden verliefen, hatte er einen furchtbaren Entschluß gefaßt und einen schrecklichen Eid geleistet.
Diesem Brüten wurde er durch die Stimme des Abbés entzogen, der zu Dantes kam, um ihn zum Abendbrot einzuladen. Seine Eigenschaft als anerkannter Narr und besonders als belustigender Narr gab dem alten Gefangenen einige Vorrechte; so erhielt er etwas weißeres Brot und Sonntags ein Fläschchen Wein. Es war aber gerade Sonntag, und der Abbé wollte seinen jungen Gefährten einladen, sein Brot und seinen Wein mit ihm zu teilen.
Dantes folgte ihm. Alle Linien seines Gesichtes hatten sich wieder geglättet und die gewöhnlichen Formen angenommen, aber es sprach aus ihnen die Starrheit und Festigkeit eines unwiderruflichen Entschlusses. Der Abbé schaute ihn aufmerksam an. Es tut mir leid, daß ich Sie in Ihren Nachforschungen unterstützt und Ihnen gesagt habe, was ich sagte, sprach er.
Warum? fragte Dantes.
Weil ich in Ihr Herz eine Leidenschaft brachte, die noch nicht darin war: die der Rache.
Dantes versetzte lächelnd: Sprechen wir von etwas anderem!
Der Abbé schaute ihn einen Augenblick an und schüttelte traurig den Kopf. Dann redete er, wie ihn Dantes gebeten hatte, von anderen Dingen.
Der alte Gefangene war ein Mann, dessen Unterhaltung lehrreich und anziehend und dabei von jeder Selbstsucht frei war, denn der Unglückliche sprach nie von seinen Leiden.
Dantes hörte jedes seiner Worte mit Bewunderung; zum Teil standen sie im Zusammenhange mit den Begriffen, die er bereits besaß, und mit den Kenntnissen, die er sich als Seemann erworben, zum Teil berührten sie unbekannte Dinge und zeigten, wie der Nordschein, der manchmal den Schiffern in den südlichen Breiten leuchtet, dem jungen Manne mit phantastischem Licht erhellte neue Landschaften und Horizonte. Dantes begriff das Glück, dessen ein vernunftbegabter Mensch teilhaftig werden müßte, wenn er diesem erhabenen Geiste auf die moralischen, philosophischen und sozialen Höhen folgte, auf denen er sich zu ergehen pflegte.
Sie sollten mich etwas von dem lehren, was Sie wissen, sagte Dantes, und wäre es nur, damit Sie sich nicht mit mir langweilen. Es scheint mir jetzt, Sie müssen die Einsamkeit dem Umgang mit einem Gefährten ohne Bildung, wie ich es bin, vorziehen. Willigen Sie in das, was ich mir von Ihnen erbitte, so mache ich mich anheischig, nicht mehr von Flucht zu reden.
Der Abbé erwiderte lächelnd: Ach, mein Kind! Die menschliche Wissenschaft ist sehr beschränkt, und habe ich Sie die Mathematik, die Physik und die paar lebenden Sprachen gelehrt, die ich spreche, so wissen Sie alles, was ich weiß. Um all dieses Wissen von meinem Geiste in den Ihrigen zu ergießen, werde ich kaum zwei Jahre brauchen.
Zwei Jahre! sagte Dantes, Sie glauben, ich könnte dies alles in zwei Jahren lernen? Was wollen Sie mich zuerst lehren? Es drängt mich zu beginnen, ich habe einen Durst nach Wissenschaft.
Die Gefangenen entwarfen wirklich noch an demselben Abend einen Lehrplan, dessen Ausführung am andern Tage begann. Dantes besaß ein wunderbares Gedächtnis und eine außerordentliche Fassungsgabe. Die mathematische Anlage seines Geistes befähigte ihn, alles durch Berechnung zu begreifen, während die Poesie des Seemannes da einsetzte, wo die auf die Trockenheit der Zahlen und die Genauigkeit der Linien zurückgeführte und beschränkte Auseinandersetzung sich zu sehr im Materiellen verlor. Er verstand überdies bereits Italienisch und etwas Neugriechisch, was er bei seinen Reisen nach dem Orient gelernt hatte. Mittels dieser zwei Sprachen begriff er bald den Organismus aller andern, und nach Verlauf von sechs Monaten fing er an, Spanisch, Englisch und Deutsch zu sprechen.
Mochte nun die Zerstreuung, die ihm das Studieren gewährte, einigermaßen die Freiheit ersetzen, oder war es gewissenhafte Befolgung des gegebenen Wortes, jedenfalls sprach er, wie er dem Abbé Faria zugesagt, nicht mehr von Flucht, und die Tage vergingen ihm rasch und lehrreich. Nach Verlauf eines Jahres war er ein anderer Mensch. Was den Abbé Faria betrifft, so bemerkte Dantes, daß er, trotz der Zerstreuung, die ihm seine Gegenwart gebracht hatte, täglich düsterer wurde. Ein unablässiger Gedanke schien seinen Geist zu belasten. Er versank in tiefe Träumerei, seufzte unwillkürlich, stand auf, kreuzte die Arme und ging finster in seinem Zimmer umher.
Eines Tages blieb er mitten in einem von den hundertmal wiederholten Kreisen stehen, die er in seinem Kerker beschrieb, und rief: Oh! wenn keine Wache da wäre!
Es wird keine Wache da sein, sobald Sie es nur wollen, sagte Dantes, der seinen Gedanken gefolgt war.
Ich habe Ihnen bereits gesagt, versetzte der Abbé, ein Mord widerstrebt mir.
Und dennoch wird dieser Mord durch den Instinkt unserer Selbsterhaltung, durch das Bewußtsein der Selbstverteidigung gerechtfertigt.
Gleichviel, ich werde es nicht vermögen.
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