Oh! mein Gott, was gibt es denn? rief Dantes.
Ich habe mich getäuscht, die Unvollkommenheit meiner Zeichnungen hat mich betrogen, der Mangel eines Kompasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Plane bedeutet fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit, und ich hielt die Mauer, die Sie durchhöhlen, für die der Zitadelle.
Aber dann wären Sie an das Meer gekommen!
Das wollte ich, ich warf mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, die das Kastell If umgeben, oder auch die Küste, und ich war gerettet.
Hätten Sie so weit schwimmen können?
Gott würde mir die Kraft verliehen haben; doch nun ist alles verloren. – Alles?
Ja. Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.
Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind. Ich bin . . . ich bin Nummer 27.
Sie mißtrauen mir also? fragte Dantes.
Edmond glaubte, ein bitteres Lachen zu hören. Oh! ich bin ein guter Christ! rief er, denn er fühlte instinktartig, daß der andere ihn verlassen wollte; ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker, die zugleich die meinen sind, durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehen bekommen. Doch im Namen des Himmels, berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart, berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.
Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.
Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hier bin, nicht messen können. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.
Noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter, murmelte die Stimme.
Oh! nein! Ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.
Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zu bitten; denn ich war im Begriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alter beruhigt mich; ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich!
Wann?
Ich muß alles erwägen und werde Ihnen ein Zeichen geben.
Doch Sie verlassen mich nicht? Ich muß nicht allein bleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen. Wir fliehen miteinander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, die ich liebe. Sie müssen irgend jemand lieben?
Ich bin allein auf der Welt.
Dann lieben Sie mich! Sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, so bin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, der siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen, namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessen bin ich sicher; aber sie, Gott weiß, ob sie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben, wie ich meinen Vater liebte.
Es ist gut, erwiderte der Gefangene, morgen!
Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Mehr verlangte er nicht; er stand auf, traf dieselben Vorsichtsmaßregeln in Bezug auf die Mauertrümmer, wie er sie früher getroffen hatte, und stieß sein Bett wieder an die Wand.
Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glück. Er hoffte sicher, nicht mehr allein zu sein, er hoffte sogar, vielleicht frei zu werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangener blieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur halbe Gefangenschaft. Den ganzen Tag ging Dantes freudigen Herzens in seinem Kerker auf und ab. Er setzte sich auf sein Bett und preßte seine Brust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusch, das er im Gang vernahm, sprang er nach der Tür. Ein paarmal stieg ihm die Furcht zu Kopf, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und doch schon wie einen Freund liebte. Dann war er entschlossen; in dem Augenblick, wo der Kerkermeister sein Bett wegrückte und sich bückte, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit dem Boden seines Kruges den Schädel einschlagen. Man verurteilte ihn dann zum Tode, das wußte er wohl; mußte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?
Am Abend kam der Wärter. Dantes lag auf seinem Bette; es kam ihm vor, als bewachte er so die unvollendete Öffnung besser. Ohne Zweifel betrachtete er den ungelegenen Besuch mit sonderbaren Augen, denn dieser sagte: Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?
Dantes antwortete nicht, er fürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten, und der Mann entfernte sich, den Kopf schüttelnd.
Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheit benutzen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er sein Bett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.
Sind Sie es? sprach er; ich bin hier.
Ist Ihr Kerkermeister fort? fragte die Stimme.
Ja, antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wiederkommen. Wir haben zehn Stunden für uns.
Ich kann also ans Werk gehen? sprach die Stimme.
Oh, ja, ja, ohne Zögern, auf der Stelle, ich bitte Sie!
Sogleich schien der Teil der Erde, auf den Dantes, halb in der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihm bewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses finstern Lochs, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, der ziemlich behend aus der Höhlung hervorkam.
Dantes schloß den neuen, so lange und so ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme und zog ihn zu seinem Fenster hin, damit ihn das wenige Licht, das in seinen Kerker drang, völlig beleuchte.
Es war ein Mann von mittlerem Wuchse, mit Haaren, mehr durch Leiden, als vom Alter gebleicht, mit durchdringenden Augen unter dichten, grau werdenden Brauen und einem noch schwarzen Barte, der auf seine Brust herabfiel. Die Magerkeit seines von tiefen Runzeln ausgehöhlten Gesichtes, die kühne Linie seiner charakteristischen Züge verkündeten einen Mann, der mehr gewohnt war, seine moralischen Fähigkeiten, als seine körperlichen Kräfte zu üben. Die Stirn des Unbekannten war mit Schweiß bedeckt.
Was seine Kleidung betrifft, so ließ sich ihre ursprüngliche Form nicht unterscheiden, denn sie zerfiel in Lumpen. Er schien wenigstens fünfundsechzig Jahre alt zu sein, obgleich seine kraftvollen Bewegungen darauf hindeuteten, daß er weniger Jahre zähle, als sein Äußeres infolge der langen Gefangenschaft vermuten ließ.
Die enthusiastische Begrüßung des jungen Mannes tat ihm offenbar wohl. Seine vereiste Seele schien sich einen Augenblick bei der Berührung mit dieser glühenden Seele zu erwärmen und zu schmelzen. Er dankte Dantes aufrichtig für seine Herzlichkeit, obgleich seine Enttäuschung groß gewesen war, als er einen zweiten Kerker fand, wo er die Freiheit zu finden gehofft hatte.
Wir wollen zuerst sehen, sagte er, ob wir ein Mittel haben, vor den Augen Ihres Wärters die Spuren meines Durchbruches zu verbergen. Unsere ganze zukünftige Ruhe hängt davon ab, daß nichts von dem, was vorgefallen ist, bekannt wird. Dann bückte er sich nach der Öffnung, nahm den Stein, hob ihn trotz seines Gewichtes leicht auf und schob ihn in das Loch. Dieser Stein wurde sehr nachlässig ausgebrochen, sagte er, den Kopf schüttelnd; Sie haben also keine Werkzeuge?
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