Mittlerweile rief das Kaiserreich einen neuen Heerbann auf, und alles, was sich in Frankreich an waffenfähiger Mannschaft vorfand, eilte auf die mächtige Stimme des Kaisers herbei. Auch Fernand mußte dem Rufe folgen. Er verließ seine Hütte und Mercedes, von dem grausamen Gedanken zermartert, sein Nebenbuhler könnte in der Zwischenzeit kommen und die Geliebte heiraten.
Seine Aufmerksamkeiten für Mercedes, das Mitleid, das er für ihr Unglück zu empfinden schien, die Sorge, mit der er ihren geringsten Wünschen zuvorkam, hatten die Wirkung hervorgebracht, die der Schein der Ergebenheit auf edle Herzen immer hervorbringt. Mercedes hatte stets eine freundschaftliche Zuneigung für Fernand gehegt, und ihre Freundschaft für ihn vermehrte sich durch ein neues Gefühl, durch die Dankbarkeit. Mein Bruder, sagte sie, als sie den Tornister auf den Schultern des Kataloniers befestigte, mein Bruder, mein einziger Freund, laßt Euch nicht töten, laßt mich nicht allein in dieser Welt, wo ich weinen muß und völlig vereinsamt bin, sobald Ihr nicht mehr lebt.
Diese im Augenblick der Trennung gesprochenen Worte gewährten Fernand wieder einige Hoffnung. Wenn Dantes nicht zurückkam, konnte Mercedes eines Tages die Seinige werden.
Mercedes blieb allein auf dieser kalten Erde, die ihr nie so öde vorgekommen war, allein, mit dem unermeßlichen Meere als Horizont. Ganz in Tränen gebadet sah man sie beständig um das kleine Dorf der Katalonier irren. Bald stand sie unter der glühenden Mittagssonne, unbeweglich, stumm wie eine Bildsäule, und schaute nach Marseille; bald saß sie am Rande des Gestades, horchte auf das Stöhnen des Meeres, so ewig wie ihr Schmerz, und fragte sich, ob es nicht besser wäre, sich vorwärts zu beugen, sich dem eigenen Gewichte zu überlassen, den Abgrund zu öffnen und sich darein zu versenken, statt die beständige Trauer einer hoffnungslosen Erwartung zu ertragen. Es fehlte ihr nicht an Mut, dieses Vorhaben zu verwirklichen, aber die Religion kam ihr zu Hilfe und bewahrte sie vor dem Selbstmord.
Caderousse wurde einberufen wie Fernand; da er jedoch verheiratet und acht Jahre älter war, als der Katalonier, kam er zum dritten Aufgebote und wurde zur Küstenverteidigung verwandt.
Der alte Dantes, den nur die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, verlor diese bei dem Sturze des Kaisers. Genau fünf Monate, nachdem er von seinem Sohne getrennt worden war, und fast zur selben Stunde, wo man ihn verhaftet hatte, gab er in Mercedes' Armen den Geist auf. Herr Morel übernahm alle Kosten seiner Beerdigung und bezahlte die geringen Schulden, die der Greis während seiner Krankheit gemacht hatte. Es war mehr als Wohltätigkeit, so zu handeln, es gehörte Mut dazu. Der Süden Frankreichs stand in Flammen, und den Vater eines so gefährlichen Bonapartisten, wie Dantes, selbst auf dem Totenbette zu unterstützen, war ein Verbrechen.
Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene.
Ungefähr ein Jahr nach der Rückkehr Ludwigs XVIII. unternahm der Generalinspektor der Gefängnisse eine Rundreise. Er besuchte wirklich hintereinander alle Zellen und Kerker. Mehrere Gefangene des Kastells If wurden ebenfalls vernommen; der Inspektor fragte sie über die Nahrung, die man ihnen verabreichte, und was sie etwa sonst noch zu wünschen hätten. Sie antworteten einstimmig, das Essen sei abscheulich, und sie wünschten, frei zu sein.
Der Inspektor fragte sie, ob sie ihm weiter nichts mitzuteilen hätten. Sie schüttelten den Kopf; was konnten Gefangene anderes verlangen, als die Freiheit?
Der Inspektor wandte sich um und sagte zu dem Gouverneur: »Ich weiß nicht, warum man uns diese unnützen Rundreisen machen läßt. Wer ein Gefängnis sieht, sieht hundert; wer einen Gefangenen hört, hört tausend. Es ist stets das gleiche: schlecht genährt und unschuldig. Haben Sie noch andere?
Ja, wir haben gefährliche Gefangene oder Narren, die im Kerker bewacht werden müssen.
Laßt sie sehen, sagte der Inspektor gelangweilt, ich darf mir nichts sparen.
Warten Sie, sagte der Gouverneur, wir müssen wenigstens zwei Soldaten zum Schutze haben. Die Gefangenen begehen zuweilen, und wäre es nur aus Lebensüberdruß und um sich zum Tode verurteilen zu lassen, Taten der Verzweiflung, und Sie könnten das Opfer einer solchen Handlung werden.
Man holte wirklich zwei Soldaten und stieg eine feuchte, übelriechende, schimmelige Treppe hinab.
Oho! rief der Inspektor, auf der Hälfte der Treppe stehen bleibend, wer zum Teufel kann hier wohnen?
Einer der gefährlichsten Meuterer, ein Mensch, der uns als zu allem fähig zu besonderer Wachsamkeit empfohlen ist.
Wie lange ist er hier?
Seit ungefähr einem Jahre, nachdem er den Schließer hatte töten wollen, hat man ihn in diesen Kerker gesetzt.
Er ist also toll?
Er ist noch viel schlimmer, sagte der Schließer, er ist ein Teufel.
Wollen Sie, daß ich Klage über ihn führe? fragte der Inspektor den Gouverneur.
Es bedarf dessen nicht, mein Herr, er ist so hinreichend bestraft. Überdies grenzt sein Zustand gegenwärtig an Narrheit, und nach der Erfahrung, die wir gemacht haben, wird er, ehe ein weiteres Jahr vergeht, verrückt sein.
Desto besser für ihn, sagte der Inspektor. Ist er einmal ein völliger Narr, so wird er weniger leiden.
Sie haben recht, sagte der Gouverneur, so haben wir in einem Kerker, der von diesem nur durch etwa zwanzig Fuß Mauerwerk getrennt ist, einen alten Abbé, einen ehemaligen italienischen Parteiführer. Er ist seit 1811 hier, wurde gegen das Ende des Jahres 1813 verrückt, und seit dieser Zeit ist er körperlich nicht mehr zu erkennen; früher weinte er, jetzt lacht er; früher magerte er ab, jetzt wird er fett.
Bei dem Klirren der schweren Schlösser, bei dem Ächzen der verrosteten Angeln, die sich auf ihren Zapfen drehten, erhob Dantes sein Haupt. Beim Anblick eines unbekannten Mannes, der von zwei fackeltragenden Schließern und zwei Soldaten begleitet war, und mit dem der Gouverneur sprach, erriet er, worum es sich handelte, und sprang, da er sah, daß sich ihm endlich eine Gelegenheit bot, einen höheren Beamten anzuflehen, mit gefalteten Händen vorwärts. Die Soldaten kreuzten sogleich das Bajonett, denn sie glaubten, der Gefangene stürze in böser Absicht auf den Inspektor los; auch dieser selbst machte einen Schritt rückwärts.
Als Dantes sah, daß man ihn als einen gefährlichen Menschen hingestellt halte, sammelte er in seinem Blicke alles, was das Herz des Menschen an Sanftheit und Demut zu enthalten vermag, und suchte mit ergreifenden, Gott als Zeugen seiner Unschuld und seines Elends anrufenden Worten, welche die Anwesenden in Erstaunen setzten, die Seele des hohen Besuchers zu rühren.
Der Inspektor hörte Dantes' Rede bis zum Ende an.
Er fängt an, fromm zu werden, sagte er hierauf zum Gouverneur mit halber Stimme; schon gibt er sanfteren Gefühlen Raum. Sehen Sie, die Furcht bringt ihre Wirkung auf ihn hervor. Er ist vor den Bajonetten zurückgewichen, ein Narr aber weicht vor nichts zurück; ich habe hierüber in der Irrenanstalt in Charenton seltsame Beobachtungen gemacht. Dann sich an den Gefangenen wendend, fragte er: Was verlangen Sie also?
Ich verlange zu wissen, welches Verbrechen ich begangen habe; ich verlange, daß man mir Richter gibt; ich verlange, daß mein Prozeß eingeleitet wird; ich verlange, daß man mich erschießt, wenn ich schuldig bin, aber auch, daß man mich in Freiheit setzt, wenn ich unschuldig bin.
Bekommen Sie gute Speise? fragte der Inspektor.
Ja, ich glaube; ich weiß es nicht. Doch daran ist wenig gelegen. Aber was nicht allein mich, den armen Gefangenen, sondern auch alle Justizbeamten und sogar den König angeht, das ist, daß ein Unschuldiger nicht das Opfer einer schändlichen Denunziation sein und nicht seine Henker verfluchend eingekerkert bleiben soll.
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