»Du kannst doch nie wissen, was kommt.«
»Ja, nicht hundertprozentig. Aber höchstwahrscheinlich.«
»Pass auf, dass du nicht spielsüchtig wirst«, meint sie lächelnd zu ihrem Sohn.
Stefan geht nun an die Kasse und wechselt die nächsten fünfzig Mark ein. Anschließend beobachtet er nachdenklich die Zahlenfolgen. Eine Weile fällt ihm nichts Besonderes auf.
Doch schließlich registriert er verblüfft, dass an der Anzeigetafel des mittleren Tisches von zwanzig Zahlen, nur drei ungerade sind. Er staunt: Siebzehnmal Pair!
Stefan legt ein Stück auf Pair und wartet gespannt.
Aber es kommt die Fünf. Traurig stöhnt er, folgert jedoch: Wenn die ganze Zeit nur Gerade kam, und ausgerechnet jetzt kam Ungerade, dann kommt jetzt auf jeden Fall wieder Gerade. Er legt gleich drei Stücke übereinander.
Als die Kugel im Roulette-Kessel klirrt, fürchtet Stefan, dass es abermals schiefgeht. Sein Herzschlag beschleunigt sich.
»Sechzehn, Rot, Pair, Manque!«, ruft der Croupier das Ergebnis routinemäßig aus.
Stefan atmet auf. Darauf riskiert er gleich noch mal dreißig Mark auf Pair.
»Achtundzwanzig, Schwarz, Pair, Passe!« -
Erfolgreich geworden, legt er jedes Mal erneut drei Jetons hin. Und wieder und wieder.
Als er schon so viel zusammen hat, dass es in seiner Jackentasche eng wird, stellt er gleich fünf Stück auf Pair. Ausgerechnet nun verliert er.
Zum Ausgleich sofort noch einmal die gleiche Summe, wird beschlossen. Doch abermals bleibt ihm das Glück versagt. Ein wenig traurig verlässt er mit Frau Schmidt den Tisch.
»Mach mal Schluss für heute. Das reicht. Wie viel hast du denn?«, will sie wissen.
»Weiß nicht. Muss erst mal zählen.«
In einem abgelegenen Teil des Raumes kramt er seine Tasche leer und beginnt zu rechnen. »Dreihundertundvierzig«, stellt er freudestrahlend fest.
»Was! Na, das hat sich ja gelohnt.«
Zufrieden fährt man nach Hause.
2. Angst und Erniedrigung
Stefan hat Angst, Angst vor vielen Dingen, aber vor allem vor Hunden.
Als er im Kleinkindalter von seinem Vater gefragt wurde, ob ihm nicht bange in Gegenwart von großen Hunden wäre, da so ein Tier doch so groß sei und er dagegen viel kleiner, und ob er nicht fürchten würde, von ihnen gebissen zu werden, da wurde ihm zum ersten Mal jene Gefahr bewusst.
Später dann hatte er "Lassie" im Fernsehen gesehen. Auch erzählte ihm seine Mutter, dass die meisten Hunde friedlich seien und nichts tun würden. Sein Großvater gab ihm den gut gemeinten Rat, einfach »Pfui!« zu sagen, wenn ein Kläffer ihm zu nahe kommt. Doch natürlich hatte er bald merken müssen, dass es nicht viel half.
Stefan hatte ein besonders beeindruckendes Erlebnis:
Im Alter von neun Jahren hielt er sich in den Ferien zu Besuch bei seiner Großmutter auf. Dort kam auch öfters eine Nachbarin mit ihrem bunten Mischling. Dieser war nicht groß. Stefan, der sich trotzdem am Anfang ängstlich zurückzog, verlor bald seine Scheu und freundete sich mit dem zierlichen Vierbeiner an. Einige Tage währte die Freundschaft. Er führte das Tier spazieren, ebenso zuversichtlich wie stolz, seine Angst besiegt zu haben. Doch das Vertrauen, welches er gesetzt hatte, wurde je enttäuscht:
Als er wieder einmal gemeinsam mit Hund nebst Besitzerin vom Spazierengehen zurückkehrte, sprang das Tier vor der Haustür der Großmutter plötzlich in die Höhe, um sogleich in die linke Hand des entsetzten Jungen zu beißen!
Glücklicherweise ließ das braun-schwarze Wesen danach sofort wieder von ihm ab.
Doch der Schock saß tief. Viel tiefer, als die eher kleine Bisswunde; schließlich war der Täter schon alt und hatte keine scharfen Zähne mehr. Sogleich schossen Stefan dicke Tränen in die jäh - von einer Sekunde auf die andere - desillusionierten Kinderaugen. Da nutzten auch die Beteuerungen der Nachbarin, »Ach, das tut mir aber Leid!«, nicht viel.
So schlimm die Erfahrung auch schmerzte, ein Gutes hatte sie doch gebracht, eine Lehre für das Leben: Traue keinem Hund, sieht er auch noch so niedlich und sympathisch aus! Denn völlig unerwartet, von einem Augenblick auf den anderen, kann er losbeißen!
Neunzehn Jahre ist der Held unserer Geschichte heute. Er ist von eher kleiner Statur und macht einen wesentlich jüngeren Eindruck. Die Schulzeit hat er ziemlich unrühmlich beendet. Zu seinem Vater hat er jeglichen Kontakt abgebrochen.
Da der sensible Junge hauptsächlich schlechte Erfahrungen mit seinen Mitmenschen gesammelt hat, lebt er sehr zurückgezogen alleine in seiner Ein-Zimmer-Wohnung. Auch darum hat ihn seine Mutter in die Spielbank begleitet, damit er mal etwas Besonderes und Schönes erlebt.
Manchmal besucht Stefan seine Tante, deren dreizehnjährige Tochter Carolin sowie den zehnjährigen Markus. Stefan versucht, seinem unausstehlichen Onkel Gerhard, den er genauso wenig leiden kann wie der ihn, auszuweichen. So besucht er fast ausschließlich seine Verwandten, wenn dieser nicht zu Hause ist.
In der Nachbarschaft seiner Tante wohnt die elfjährige Freundin seiner Cousine, namens Petra. Dieses Mädchen nennt einen riesigen Hund ihr eigen. So manches Mal, wenn Stefan seine Tante besucht, bangt er und hofft, dass dieser Köter nicht wieder frei herumläuft in der ruhig gelegenen Straße. Einmal rannte das Tier an. Stefan konnte sich gerade noch hinter die Gartenpforte retten und diese schließen.
Als er nun eines Tages abermals bei seinen Verwandten ist, kommt Petra dazu. Man unterhält sich. Es wird Abend. Tante Gisela animiert: »Carolin und Petra, wollt ihr nicht den Stefan ein Stück begleiten?«
Beide Mädchen bejahen. Petra meint etwas keck: »Wir beschützen dich schon. Da brauchst du keine Angst zu haben.«
Der schüchterne Stefan hält es für das Beste, gar nichts dazu zu sagen, sondern nur mit einem Lächeln zu reagieren.
Dafür entgegnet die Tante: »Der Stefan hat keine Angst. Es ist doch nur, damit er nicht so alleine geht.«
Jetzt fügt Petra hinzu: »Ich hol’ nur schnell Cora ab, zum Gassigehen.«
Ohne dass er es sich anmerken ließe, denkt Stefan: Ausgerechnet! Auch das noch! Wenn die wüsste! Mit der Begleitung habe ich doch viel mehr Angst als ohne!
Nachdem sie ein kurzes Stück gegangen sind, sagt Petra plötzlich: »Fass! Fass!« zu ihrem domestizierten Wesen und zeigt mit dem Finger auf den überraschten Cousin ihrer Freundin.
So erstaunt und hilflos jener in diesem Moment auch ist, er weiß genau, dass es keinen Sinn hätte - ja, ihm eher schaden würde -, wenn er seine Gefühle offen zeigt. Deshalb versucht er, trotz innerer Verzweiflung, nach außen hin gelassen zu wirken. Von seiner Cousine wusste er ja bereits, dass Petra mit dem großen Hund immer angibt. Aber dass sie so unverschämt ist, hätte er sich nicht gedacht. Das Mädchen, welches er bis heute nett fand, grinst blöd.
Das Tier reagiert überhaupt nicht. Nun weiß Stefan, dass die elfjährige Besitzerin wohl nicht damit gerechnet hat, ihr Befehl könne befolgt werden. In Gedanken flucht er: Trotzdem eine Schweinerei!
»Wenn man einen Hund hat, kann man jeden anmachen«, verkündet Petra mit strahlendem Gesicht.
Als Stefan später seiner Mutter, welche ihn oft besucht, von der Angelegenheit erzählt, findet diese ebenfalls: »Das ist ja ein starkes Stück!« Weiter klagt sie: »Ich kann das ja auch nicht leiden, wenn ich oft in der U-Bahn oder im Bus fahre, und dann lecken die Hunde mir an den Beinen. Wahrscheinlich mögen die das gerne, wenn ich mich eingecremt habe. Da muss man sich die Beine abschlecken lassen, und man kann nichts dagegen machen! Die Besitzer sagen nur blöd: "Der beißt nicht." Sie selber mögen das wohl, wenn der Hund sie leckt, und dann denken sie, andere mögen das auch. Aber mich ekelt das. Bah!«
So manches Mal, wenn Stefan ruhig eine Straße entlanggeht, kommt plötzlich ein großes Viech angerannt. Im letzten Moment schreit dann eine Männer- oder Frauenstimme aus dem Hintergrund: »Arko!« oder »Anja, hier!«
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