Jonas Scotland - Fleischpflanzerl

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Ein Kriminalroman, in dem fatale Folgen von völlig unterschiedlichen Moralvorstellungen erlebt werden. Die vielschichtige Handlung zwischen 1943 und 2001 spiegelt den Wandel der gesellschaftlichen Zustände wider: Ein Kriegs-Heimkehrer, vergrabene Leichen im Garten. In einem Kloster-Internat der fünfziger Jahre findet sexueller Missbrauch an Jungen statt. Der scheinbare Selbstmord eines Schülers ändert zunächst nichts daran. Bis eines Tages ein nicht aufgeklärter Jugendlicher von der Wahrheit überrascht wird, die er zuvor dem inzwischen Toten nicht glauben wollte. Später, als Kriminalkommissar, wird er mit weiteren außergewöhnlichen Fällen konfrontiert. Die Milieuschilderungen geben Einblick in ganz verschiedene Erlebnis-Welten.
– 216 spannende Seiten mit einer Prise Humor

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Fleischpflanzerl

Jonas Scotland

Roman

Alle Rechte liegen beim Autor

Copyright © 2001 by Jonas Scotland

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-3655-2

Inhalt

1. Zwei Freunde

2. Die Heimkehr

3. Das Kloster

4. Urlaub bei Muttern

5. Nachricht aus dem Jenseits

6. Manchmal haben Lügen lange Beine

7. Gekennzeichnet

8. Teleskop

9. Unfreundliche Menschen

10. Wenn der Schein trügt

11. Der Stief-Enkel

1. Zwei Freunde

Wir schreiben das Jahr 1943. Der Name "Stalingrad" hat bereits seine tiefere Bedeutung erhalten. Aber, getäuscht von der Propagandamaschinerie, ist sich auch die Bevölkerung in einem kleinen deutschen Dorf namens Dingeln dessen nicht bewusst:

Hildegard Brunisch ist jung und entspricht dem jetzigen Schönheitsideal: keine ausgesprochen feminine Figur, sondern schlank vom Hals bis zu den Fesseln. Doch durch die Arbeit im Garten sind Ober- wie Unterarme leicht muskulös geworden. Ihr mittellanges, dunkelblondes Haar ist durch starke Dauerwellen gekräuselt. Zwei Seitenkämmchen verhindern, dass es störend ins Gesicht fällt. Meistens trägt sie braune kunstseidene Strümpfe mit Pumps.

Der Krieg brachte auch für sie Ungewissheit und Einsamkeit. Sie leidet darunter, dass ihr Mann Anton schließlich doch in die Wehrmacht eingezogen wurde. Als sie sieht, wie Briefträger Chromik auf ihr Haus zukommt, eilt sie ihm aufgeregt entgegen.

»Guten Morgen, Frau Brunisch! Ich habe einen Brief aus dem Felde. Hoffentlich nichts Unerfreuliches.«

»Heil Hitler!«, grüßt sie stolz mit erhobener rechter Hand.

»Heil Hitler!«, fügt der ältere Mann kleinlaut hinzu.

»Danke, Herr Chromik.«

»Schönen Tag wünsch’ ich Ihnen noch, Frau Brunisch!«

Es steht geschrieben:

Der Schreiber war, als er den Brief aufgesetzt hat, sicher, dass dieser kontrolliert werden würde. Und damit die Post auch weitergeleitet wird, hat er sie entsprechend formuliert, im letzten Teil entgegen seiner wahren Überzeugung.

Die Empfängerin ist glücklich über die freudigen Neuigkeiten und sieht ungeduldig dem 5. Mai entgegen. Sie ist sehr optimistisch, dass es mit dem erhofften Besuch ihres Mannes klappt. Deshalb plant sie eines ihrer wenigen Hühner zu schlachten, um ein festliches Mahl bereiten zu können.

Was ziehe ich nur an?, geht ihr durch den Kopf. Dabei fällt ihr ein, dass sie ja ihren Rock noch vom Schneider abholen muss. Sie hat ihn dort zum Wenden abgegeben, was in dieser Zeit gang und gäbe ist. Denn Textilien sind sehr teuer. Die äußerlich abgeschabte Kleidung wird aufgetrennt, nach innen gewendet und wieder zusammen genäht, so dass die heile Innenseite jetzt nach außen getragen wird.

Als sie die Schneiderei betritt, alarmiert das Bimmeln der Türglocke den Besitzer. »Guten Tag, Frau Brunisch!«, begrüßt er sie. »Sie wollen sicher Ihren Rock abholen. Er ist wunderbar geworden, wie neu.«

»Das ist ja schön, Herr Sanovski«, antwortet sie, während ihre Augen aufs Regal schweifen, wo etliche Stoffe gelagert werden. Ein Muster hat es ihr besonders angetan. Es ist ein dünner dunkelblauer Ballen.

Der Ladeninhaber geht in die Werkstatt, um die fertige Ware zu holen. Hildegard Brunisch schaltet schnell. Sie hastet hinter den Ladentisch, springt in die Höhe und schnappt sich den begehrten Stoff. Sogleich lässt sie diesen unter ihrem Mantel verschwinden und klemmt ihn mit dem Ellenbogen fest an ihren Körper. Sie meint, dass es gewiss für ein Kleid reichen wird. Anschließend legt sie das abgezählte Geld für die Änderung ihres Rockes auf den Tresen.

Es hätte gar nicht der Eile bedurft, denn es dauert bis der Schneider wieder da ist: »So, hier ist das gute Stück schon.«

»Ah, ja! Gute Arbeit. Sie verstehen Ihr Handwerk. Gelernt ist gelernt«, schmiert sie ihm noch reichlich Honig um den - nicht vorhandenen - Bart.

Herr Sanovski ist hocherfreut über so zufriedene Kundschaft. Es wird noch eine Weile dauern, bis er den Verlust bemerkt. Und er wird nie erfahren, wer es war.

Anton Brunisch ist mit seiner Infanterie-Einheit im Osten stationiert, zusammen mit seinem Nachbarn Hans Kuchenbäcker. Der eins siebzig große Ehemann hat rote Haare, leicht bräunliche Augen, eine sehr helle, sommersprossige Haut sowie eine ansonsten sehr kräftig gebaute Figur.

Bei einer Gelegenheit in der Mannschaftsunterkunft, holt er - wie er es oft zu tun pflegt - ein Foto seiner Frau hervor, betrachtet es und denkt an sie. Er freut sich darauf, sie wieder in seine Arme zu schließen. Die anderen Männer haben häufig Bilder von Filmschauspielerinnen hinter ihrem Rasierspiegel stecken; Frauen, die für sie unerreichbar sind. Darüber kann sich Anton nur wundern. Darum fragt er ein bisschen scherzhaft seinen alten Freund: »Sag mal, Hans, was träumst du eigentlich nur immer von den Ufa-Schönheiten? Zugegeben, sind ja nett anzusehen. Aber an die kommst du doch nie ran. Zum Beispiel deine Kristina Söderbaum, die ist doch mit ihrem Regisseur verheiratet. So ein Mädel wie meine Hilde musst du dir suchen. Das ist doch was Richtiges.«

Hans ist acht Zentimeter länger, dafür jedoch besonders schlank. Aus dem schmalen Gesicht ragt eine ausgeprägte Nase. Eigentlich findet er die Kritik seines Gegenübers nicht gerade sehr einfühlsam. Denn schließlich kann man sein Glück nicht erzwingen. Aber er ist ein friedliebender Mensch, der die Freundschaft nicht aufs Spiel setzen will und antwortet: »Hast ja Recht, Anton. Es ist eben noch nichts geworden. Hat nicht sollen sein. Aber du hast ja hier auch nicht allzu viel von deiner Hilde.«

»Leider, Hans. Ein paar Tage in der Heimat würden uns mal wieder gut tun, was? Aber auf dich wartet ja keiner zu Hause, wie bei mir.«

»Das stimmt allerdings. Aber trotzdem, Urlaub ist immer gut, auch wenn ich zu Hause niemanden habe.«

»Ja, da hast du auch wieder Recht. Aber nimm es nicht so tragisch. Du findest schon noch die Richtige, Kumpel.«

Mitten in dieses Geplänkel platzt der Feldwebel mit einem Befehl: »Brunisch und Kuchenbäcker! Sofort zum Hauptmann kommen!«

Die beiden hoffen, dass sie der Eindruck, den sie von dem relativ neuen Vorgesetzten gewonnen haben, nicht getäuscht hat; weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass dieser sehr gütig mit seinen Untergebenen umgeht.

Wenig später stehen sie vor seinem Klapp-Schreibtisch stramm, über welchem tief eine kleine Hängelampe an ihrer langen Leitung von der Decke baumelt. Diese wirft überlebensgroße Schatten von ihnen an die Wand, als sie die Hacken mit einem Klacken zusammenschlagen und gleichzeitig die gestreckten Fingerspitzen der rechten Hand an die Schläfe pressen.

»Rühren!«, gestattet der Hauptmann auch schon, um sehr gute Neuigkeiten zu verkünden: »Brunisch und Kuchenbäcker, Sie haben sich beide gut geführt. Und nach den letzten Wochen ist es endlich mal ruhig hier. Deshalb wird Ihren Anträgen auf Heimaturlaub stattgegeben. Zwei Wochen.«

»Danke sehr, Herr Hauptmann!«

»Hier«, sagt er, während er die Urlaubsscheine aushändigt. »Und vergessen Sie nicht, Ihre Päckchen mitzunehmen. Heil Hitler!« Zu diesem Zeitpunkt wird nämlich noch jedem Fronturlauber ein Päckchen mit Lebensmitteln mitgegeben, damit die Daheimgebliebenen sehen sollen, wie gut die Wehrmachtsangehörigen versorgt sind. So gut, dass sie sogar noch etwas nach Hause mitbringen können.

»Heil Hitler, Herr Hauptmann!«

Am Abend in der Mannschaftsunterkunft spielen die Männer - wie so oft, um trübsinnige Gedanken zu vertreiben - Skat, als Kamerad Krüger Streit anfängt: »Na, Brunisch! Ich hab’ gehört, morgen willst du nach Hause, zu deinem Weib. Glaubst du etwa im Ernst, dass die nur die ganze Zeit auf dich wartet?! Ich kenne doch die Weiber. Die sind doch alle gleich!«

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