»Aber da war doch die Geldentwertung«, macht Lämmchen einen neuen Versuch.
»Geraubt hat er es mir«, sagt die alte Frau kläglich, und die hellen Tränen fließen mühelos aus ihren Augen. »Ich will Ihnen die Bücher zeigen, ich hab es jetzt gemerkt, die Zahlen sind nachher ganz anders, so viele Nullen.«
Sie steht auf und geht gegen den Mahagonisekretär.
»Es ist wirklich nicht nötig«, sagen Pinneberg und Lämmchen.
In diesem Augenblick geschieht es: Die Uhr draußen, die Pinneberg im Schlafzimmer der Alten abgestellt hatte, schlägt silbern hell, eilig neun Uhr.
Die Alte bleibt halbwegs stehen. Den Kopf erhoben, späht sie in das Dunkel, lauscht mit halboffenem Mund, mit zitternder Lippe.
»Ja?« fragt sie ängstlich.
Lämmchen faßt nach Pinnebergs Arm.
»Das ist die Verlobungsuhr von meinem Mann. Sie stand doch sonst drüben?«
Die Uhr hat zu schlagen aufgehört.
»Wir wollten Sie bitten, Frau Scharrenhöfer«, fängt Lämmchen an.
Aber die Alte hört nicht, vielleicht hört sie überhaupt nie auf das, was andere reden. Sie macht die angelehnte Tür auf: Da steht die Uhr, selbst in diesem schlechten Licht deutlich sichtbar. »Die jungen Leute haben mir meine Uhr wiedergebracht«, flüstert die Alte. »Das Verlobungsstück von meinem Mann. Es gefällt den jungen Leuten bei mir nicht. Sie bleiben auch nicht bei mir. Keiner bleibt …«
Und wie sie das gesagt hat, fängt die Uhr wieder zu schlagen an, noch eiliger, noch glasheller beinahe, Schlag um Schlag, zehnmal, fünfzehnmal, zwanzigmal, dreißigmal …
»Das kommt vom Tragen. Sie verträgt das Tragen nicht mehr«, flüstert Pinneberg.
»O Gott, komm schnell!« bittet Lämmchen.
Sie stehen auf. Aber in der Tür steht die Alte, läßt sie nicht vorbei, sieht die Uhr an. »Sie schlägt«, flüstert sie. »Sie schlägt immerzu. Und dann schlägt sie nie wieder. Ich höre sie zum letztenmal. Alles geht von mir weg. Das Geld ist auch weg. Wenn die Uhr schlug, dachte ich immer: Die hat mein Mann noch gehört …«
Die Uhr ist still.
»Bitte, Frau Scharrenhöfer, es tut mir sehr leid, daß ich Ihre Uhr angefaßt habe.«
»Ich bin schuld«, schluchzt Lämmchen. »Ich ganz allein …«
»Gehen Sie, junge Leute, gehen Sie nur. Das soll so sein. Eine gute Nacht, junge Leute.«
Die beiden drücken sich vorbei, angstvoll, verschüchtert wie Kinder.
Plötzlich ruft die Alte klar und deutlich: »Vergessen Sie am Montag nicht die Anmeldung bei der Polizei! Sonst habe ich Scherereien.«
Der Schleier der Mystik hebt sich. Bergmann und Kleinholz. Warum Pinneberg nicht verheiratet sein kann
Sie wissen nicht recht, wie sie in ihr Zimmer gekommen sind, durch all die dunklen übervollen Räume, angefaßt an der Hand wie Kinder, die sich ängstigen.
Nun stehen sie in ihrem Zimmer, auch das noch gespenstisch genug, nebeneinander, im Dunklen. Es ist, als ob das Licht ihnen widerstrebte, als könnte es ebenso trübe sein wie das funzlige Licht nebenan bei der alten Frau.
»Das war schrecklich«, sagt Lämmchen, tief Atem holend.
»Ja«, sagt er. Und nach einer Weile noch einmal: »Ja. Sie ist verrückt, die Frau, Lämmchen, aus Kummer um ihr Geld.«
»Das ist sie. Und ich …«, die beiden stehen noch immer angefaßt im Dunklen, »und ich soll den ganzen Tag hier allein in der Wohnung sein, und sie kann immer zu mir hereinkommen. Nein! Nein!«
»Sei doch ruhig, Lämmchen. Neulich war sie ganz anders. Das war vielleicht nur einmal so.«
»Junge Leute …« wiederholt Lämmchen. »Sie sagt es so häßlich, als wenn wir etwas noch nicht wüßten. Du, du, Junge, ich will nicht so werden wie die! Nicht wahr, ich kann nicht so werden wie die?! Ich hab Angst.«
»Aber du bist doch Lämmchen«, sagt er und nimmt sie in seinen Arm. Sie ist so hilflos, so groß und hilflos, und sie kommt zu ihm um Schutz. »Du bist doch Lämmchen und bleibst Lämmchen, wie kannst du werden wie die olle Scharrenhöfer?«
»Nicht wahr? Und für unsern Murkel kann es auch nicht gut sein, wenn ich hier wohne. Der soll sich nicht ängstigen, seine Mutter will immer fröhlich sein, damit er auch fröhlich wird.«
»Jaja«, sagt er und streichelt sie und wiegt sie. »Das kommt alles zurecht, das findet sich alles.«
»Das sagst du. Aber du versprichst mir nicht, daß wir ausziehen. Gleich!«
»Können wir es denn? Haben wir denn das Geld dafür, anderthalb Monate lang zwei Wohnungen zu bezahlen?«
»Ach, das Geld!« sagt sie. »Soll ich mich ängstigen, soll der Murkel schiech werden wegen ein bißchen Geld?«
»Ja, ach, das Geld«, sagt er. »Das böse Geld. Das liebe Geld.«
Er wiegt sie in seinen Armen hin und her. Plötzlich fühlt er sich klug und alt, auf Dinge, auf die es bisher ankam, kommt es nicht mehr an. Er darf ehrlich sein: »Ich habe keine besonderen Gaben, Lämmchen«, sagt er. »Ich werd’ nicht hochkommen. Wir werden immer nach dem Geld krampfen müssen.«
»Ach du!« sagt sie halb singend. »Ach du!«
Der Wind bewegt die weißen Vorhänge an den Fenstern. Das Zimmer ist von einem sanften Licht durchstrahlt. Magisch angezogen gehen die beiden Arm in Arm gegen das offene Fenster und lehnen sich hinaus.
Das Land liegt im Mondlicht. Ganz rechts leuchtet ein flackerndes, flimmerndes Pünktchen: die letzte Gaslaterne in der Feldstraße. Aber vor ihnen liegt das Land, schön aufgeteilt in freundliche Helle und in einen sanften, tiefen Schatten, wo Bäume stehen. So still ist es, sie hören bis hierherauf die Strela über ein paar Steine plätschern. Und der Nachtwind stößt ganz sanft gegen ihre Stirnen.
»Wie schön das ist«, sagt sie. »Wie friedlich!«
»Ja«, sagt er. »Das tut richtig gut. Zieh mal die Luft tief ein, nicht wie bei euch in Platz.«
»Bei euch … ich bin nicht mehr in Platz, ich gehöre nicht mehr nach Platz, ich bin am Grünen Ende bei der Witwe Scharrenhöfer …«
»Nur bei der?«
»Nur bei der!«
»Gehen wir noch mal runter?«
»Jetzt nicht, Junge, laß uns hier noch ein Weilchen liegen. Ich muß dich auch noch etwas fragen.«
Jetzt kommt es, denkt er.
Aber sie fragt nicht. Sie liegt da im Fenster, der Wind bewegt das blonde Haar in der Stirn, legt es bald so, bald so. Er sieht dem zu.
»So friedlich …« sagt Lämmchen.
»Ja«, sagt er. Und dann: »Komm ins Bett, Lämmchen.«
»Wollen wir nicht noch ein bißchen aufbleiben? Wir können morgen doch so lange schlafen, wo Sonntag ist. Und dann will ich dich auch noch etwas fragen.«
»Also frag schon!«
Es klingt ein wenig gereizt. Pinneberg holt sich eine Zigarette, brennt sie vorsichtig an, nimmt einen tiefen Zug und sagt wieder, aber merklich sanfter: »Frag schon, Lämmchen.«
»Willst du es nicht so sagen?«
»Aber ich weiß doch gar nicht, was du fragen willst.«
»Du weißt!« sagt sie.
»Aber bestimmt nicht, Lämmchen …«
»Du weißt.«
»Lämmchen, bitte sei vernünftig. Frag schon!«
»Du weißt.«
»Also dann nicht!« Er ist beleidigt.
»Junge«, sagt sie. »Junge, erinnerst du dich noch, wie wir in Platz in der Küche saßen? An unserm Verlobungstag? Es war ganz dunkel und so viele Sterne, und manchmal gingen wir auf den Küchenbalkon.«
»Ja«, sagt er brummig. »Weiß ich alles. Und?«
»Weißt du nicht mehr, was wir da besprochen haben?«
»Na, hör mal, da haben wir uns eine hübsche Menge zusammengequasselt! Wenn ich das noch alles wissen soll!«
»Aber wir haben etwas ganz Bestimmtes besprochen. Uns versprochen sogar.«
»Weiß ich nicht«, sagt er kurz.
Also da liegt nun dieses mondbeschienene Land vor Frau Emma Pinneberg, geborene Mörschel. Die kleine Gaslaterne rechts zwinkert. Und gerade gegenüber, noch an diesem Ufer der Strela, ist ein Hümpel Bäume, fünf oder sechs. Die Strela plätschert, und der Nachtwind ist sehr angenehm.
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