MARIUS HORNISCH
Die Kurzgeschichten wurden beim Schreibwettbewerb der Hochschule Mannheim mit dem dritten (2010), zweiten (2012) und ersten (2013) Platz prämiert.
Impressum
Texte: © Copyright by Marius Hornisch
Umschlag: © Copyright by Marius Hornisch
Verlag:
Marius Hornisch
m.hornisch@t-online.de
ISBN 978-3-7450-7151-1
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für alle Vanessas da draußen
Ich möchte an dieser Stelle meinen Eltern für ihre Unterstützung danken. Ein weiterer Dank geht an Dietmar Krotz, der das Korrekturlesen übernommen hat und Saskia Opitz, die immer ein offenes Ohr für Vorschläge und Ratschläge hatte. Danke für deine Geduld.
Sein Herz schlug schnell und trieb ihm das Adrenalin durch seine Adern. Sein Körper war fiebrig und klebrig von der Anstrengung. Aber diese Freiheit vom tristen, grauen Alltag des Lebens ließ jegliche Gefahr verblassen, die dieser Sport mit sich brachte. Sein ganzer Körper vibrierte und die kalte Winterluft peitschte über seine roten Wangen, als Leon den Abhang mit seinem Mountainbike hinabfuhr. Geschickt wich er den Bäumen aus und sprang über Stock und Stein. Sein Ziel war seine selbstgebaute Sprungschanze. Ein Glitzern spiegelte sich in seinen Pupillen, als sie sich wie ein Monument in den Himmel hob. Eingeleitet mit einem Freudenschrei richtete Leon sich auf, trat noch mal in die Pedale, verstärkte seinen Griff um den Lenker, hielt die Luft an und sprang.
„Frei“, dachte er, schloss die Augen und atmete den modrigen und zugleich frischen Duft des Waldes ein.
Doch schon bald sollte dieses einfache Wort für Leon eine ganz neue Bedeutung haben.
Ein unbekannter, ekelhafter Geruch kroch durch seine Nase und ließ den Jungen die Augen erschrocken aufreißen. Müll und Abfall säumten den Waldboden und eine undefinierbare, schleimige Flüssigkeit ergoss sich in sein Refugium.
„Shit!“ Im Flug streifte Leon unglücklich mit seinem Hinterrad ein rostiges Stück Eisen und schlitzte es sich auf. Hart landete sein Fahrrad auf dem Boden. Mit aller Kraft hielt er sich auf dem Mountainbike und versuchte es auf dem schwierigen Untergrund zum Stehen zu bringen. Aber in diesem Augenblick erhob sich vor Leon ein alter mannshoher Container und versperrte ihm den Weg. Ohne über die Folgen nachzudenken, trat er in die Bremsen, verlagerte sein Gewicht und rammte seinen Fuß in den Untergrund. Schlitternd rutschte das Fahrrad auf den Metallkasten zu, bis Leon mit seiner Hand am Container das Mountainbike endlich zum Stehen bringen konnte.
Die Schläge seines Herzens hämmerten in seinem Kopf und mit tiefen Atemzügen zog er die Luft ein. Der Schock saß tief in seinen Gliedern, während er sich umschaute. Dort, wo gestern noch sein kleines Reich gewesen war, säumte nun illegal abgeladener Abfall den Waldboden.
War ihm etwas passiert. Er hielt kurz inne, um zu schauen, ob er irgendwo Schmerzen verspürte, aber das Adrenalin betäubte seine Sinne, also schaute er an sich herunter und bewegte seine Gelenke.
„Oh nein.“ Als sein Blick über sein rechtes Bein wanderte, mit dem er gebremst hatte, sah er Blut, viel Blut. Metallsplitter hatten sich in sein Unterbein gebohrt. Er verspürte zwar keinen Schmerz, aber die Wunde sah schlimm aus.
Automatisch verschwand seine Hand in der Trikottasche, förderte sein Handy zutage und er tippte die Notfallnummer auf das Display. Zitternd hob er das Gerät ans Ohr und wartete auf das Freizeichen, doch es kam nicht. Langsam stieg pure Angst in ihm auf. Mit verschwommenem Blick betrachtete er das Display und erkannte, dass er keinen Empfang hatte.
Er brauchte Hilfe. Er musste nach Hause. Wirre Gedanken kreisten in seinem Kopf und die Wirklichkeit begann zu verschwimmen. Dann wurde es dunkel.
„Leon, kannst du mich hören? Sag doch was, mein Sohn.“
Weit weg, hinter einem Schleier, nahm Leon die Worte wahr.
„Was ist passiert?“, dachte er. Bilder schoben sich vor sein inneres Auge, zeigten ihm den Wald, das Downhillfahren, den Sprung, Schmerz, Dunkelheit, Leere.
Erschrocken riss Leon die Augen auf und schrie.
„Leon, beruhige dich. Wir sind hier. Alles wird wieder gut.“
Die sanfte Stimme seiner Mutter gab ihm Ruhe und ihre Umarmung tröstete ihn. Schniefend zog er die Nase hoch und schaute sich im Zimmer um. Er war im Krankenhaus. Erst jetzt nahm er die Kanüle in seiner Hand wahr und das Gerät, das seinen Puls überwachte. Eine Kochsalzlösung wurde ihm intravenös verabreicht. Der sterile Geruch trieb alte, vergessene Erinnerungen in sein Gedächtnis zurück und ließ seinen Puls schneller schlagen.
Blass und mit trockenen Lippen schaute Leon zu seiner Mutter und fragte sie mit rauer Stimme: „Mama, was ist passiert?“
Besorgt tauschte sie einen Blick mit seinem Vater, wandte sich dann wieder Leon zu, schluckte und sprach mit zarter, zerbrechlicher Stimme: „Du hattest einen Unfall, ein Spaziergänger hat dich verletzt und verwirrt im Wald gefunden. Du hast ihm gesagt, dass du nach Hause müsstest. Er hat dich ins Krankenhaus gebracht. Du hast dich am Fuß verletzt“, seine Mutter schwieg länger als nötig und fügte dann hastig hinzu: „Aber die Ärzte sagen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Hörst du? Du wirst wieder gesund.“
Die Tränen in ihren Augen verrieten die Lüge, die sie ihn glauben machen wollte und Leon fragte sich, wie schlimm es wirklich war. Was war passiert? Mit flehendem Blick suchte er seinen Vater, um von ihm die Wahrheit zu erfahren, doch auch er wandte sich ab. Es musste etwas Schlimmes sein. Angst stieg in ihm auf und ein kalter Schweißfilm legte sich über seine Haut.
„Wo ist Vanessa?“, fragte Leon.
„Sie hat sich doch mit dir gestritten und ist für ein paar Monate zu Verwandten in die USA gezogen. Wir haben ihr sofort Bescheid gegeben, als wir den Anruf von dir bekommen haben, aber bis sie einen Flug nach Deutschland bekommt und hier sein kann, werden bestimmt ein paar Tage verstreichen.“
„Sie ist nicht hier?“, fragte Leon und bekam Erinnerungen vom Streit und dem Abschied seiner Freundin. Ihre weiche Hand auf seiner Wange, ihre mandelbraunen Augen, ihr Duft nach Honig und Vanille und der Kuss, der alles vergessen ließ.
Plötzlich übermannte ihn eine tiefe Müdigkeit und die Wirklichkeit verblasste. Seltsame Träume und Gedanken zeichneten Bilder in seinem Kopf. Weit entfernte Stimmen sprachen über ihn. Schmerz durchzuckte seinen Körper und Leon schlug die Augen auf.
Ein Dutzend Ärzte und Krankenschwestern standen um sein Bett. Er war in einem anderen Zimmer. Schläuche kamen aus seinem Körper und was für ein seltsames Ding steckte in seiner Nase? Er wurde beatmet, gab ihm sein Gehirn die Antwort.
„Er ist wach“, hörte Leon eine Krankenschwester sagen.
„Hören Sie mir bitte gut zu“, sagte der Arzt und schaute Leon in die Augen. „Wir werden Sie operieren müssen. Die Wunde an Ihrem Bein hat sich entzündet. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass wir Ihr Bein retten können. Bleiben Sie bitte ruhig.“
„Wo sind meine Eltern, wo ist Vanessa?“, fragte Leon.
„Es ist drei Uhr morgens. Wir haben Ihre Eltern angerufen. Sie sind auf dem Weg hierher, aber wir können nicht warten. Sie werden Ihre Eltern nach der OP sehen“, sagte der Arzt.
„Versprechen Sie mir das!“, beharrte Leon.
Doch der Arzt schwieg und schaute Leon mit traurigem Blick an. „Versprechen Sie es mir!“, brüllte Leon, doch seine Worte hallten unausgesprochen in seinem Kopf wider. Das Bild verschwamm erneut und das letzte, was er hörte, war eine panische Krankenschwester, die anfing zu schreien.
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