Die Proportion seines Eises war jetzt endlich so weit geschrumpft, dass es gefahrlos in der Waffel ruhte.
»Für uns war es auch sehr schön«, bedankte sich Sabrina, nachdem sie neben ihm Platz genommen hatte.
»Endlich Frühling!« sagte Ruprecht und schlürfte den Rest des Eises aus dem Hörnchen.
»Übrigens«, fuhr er dann in vertraulichem Ton fort. »Ich wollte an dem Abend nichts sagen, aber, ... du weißt ja, dass ich auch noch die gesetzlichen Betreuungen mache. Da fallen immer wieder mal Haushaltsauflösungen an. Und ich habe mir überlegt, wenn Paul Lust hat, kann ich die problemlos an ihn vergeben.«
Sabrina sah ihn fragend an.
»Na ja«, ergänzte Ruprecht, »es ist nicht viel. Aber es hätte eine gewisse Regelmäßigkeit.«
»Paul soll den Entrümpler machen?«
Sabrina sah ihn beinahe entsetzt an. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte.
»Das ist nichts Ehrenrühriges. Was wäre denn so schlimm daran?«
Sabrina starrte verwirrt auf den Boden. Was hatten ihre Kollegen eigentlich für ein Bild von Paul? Im Grunde war er doch auch ein Kollege. Ein Jurist. Hatten sie das vergessen? Er hatte sich mutig entschieden seine eigenen Wege zu gehen. Er ... Was hatte sie für ein Bild von Paul?
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein Tropfen Eis an Ruprechts Jackenzipfel herunter rann, eine milchige Spur hinterließ und schließlich auf dem Hosenbein landete. Das Speiseeis hatte gewonnen! Irgendwie freute es sie und sie musste schmunzeln.
Ruprecht stand auf.
»Na ja. Ich wollte es ja eigentlich gar nicht ansprechen. Denk mal drüber nach. Es ist nur gut gemeint. Bis später!«
»Bis später.«.
Sabrina hob den Kopf und schloss die Augen. Die Wärme der Sonnenstrahlen tat gut. Also, was hatte sie eigentlich für ein Bild von Paul? Sie füllte in Gedanken einen imaginären Notizzettel aus. Er war liebevoll und mutig. Er war charmant und klug. Ihm war eine große Karriere als Jurist vorausgesagt worden, und er hatte lächelnd darauf verzichtet und sich stattdessen für einen Beruf und ein Leben entschieden, das ihn zwar nicht wohlhabend, wohl aber glücklicher machte. Wer traute sich das schon? »Der Mensch ist in der Lage, zu entscheiden, etwas nicht zu tun. Das unterscheidet ihn vom Pawlowschen Hund«, pflegte er dann immer zu sagen, wenn er auf Unverständnis stieß.
Er war kritisch und verletzlich. Er war anders. Ihn interessierte nicht, was die Welt von ihm erwartete, sondern nur das, was er von sich selbst erwartete. Vielleicht war das der Knackpunkt. Vielleicht hatte sein Eigenleben eine ganz eigene Dynamik entwickelt? Vielleicht hatte er sich im Laufe der Zeit immer mehr von dem entfernt, was man gemeinhin als gesellschaftsfähig bezeichnete?
Sabrina stellte plötzlich erschrocken fest, dass sie dabei war, Ruprechts Sichtweise verstehen zu wollen. Das würde sie sich Paul gegenüber niemals verzeihen.
Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie schloss die Augen und hielt das Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen. Die Wärme tat noch etwa zehn Sekunden ihre wohlige Wirkung, doch dann schob sich eine Wolke vor die Sonne und schlagartig wurde es wieder kühl.
***
Nicht nur die Menschen, auch Flora und Fauna schienen aufzuatmen. Fast explosionsartig schossen die Knospen aus den Zweigen der Sträucher, und die Vögel wetteiferten um die schönsten Jubelgesänge. Wobei die Lautstärke ganz offensichtlich nicht proportional zu ihrer Körpergröße war. Groß und Klein gaben alles für die Frühlingssymphonie.
Manni hatte es sich auf der Terrasse bequem gemacht. Da die Sonne den Bildschirm seines Notebooks blendete, hatte er auch die Markise ein Stück heruntergekurbelt.
Auf dem Tisch standen eine Kanne mit Tee und ein Schälchen mit Studentenfutter. Außerdem hatte er sich einen Notizblock bereitgelegt. Denn Notizen machte er sich immer noch am liebsten handschriftlich auf Papier, statt im Computer.
Zum wiederholten Mal hatte er »August Thyssen Rodin« in die Suchmaschine eingegeben, und nun klickte er sich durch weitere Seiten der über sechzigtausend Suchergebnisse. Der Informationswert wurde allerdings immer dünner, wie er schon an den Zitatzeilen in der Suchmaschine erkannte.
Er wollte herausfinden, was es mit diesem achten Rodin auf sich hatte, von dem Hedwig Goldacker in ihrem Tagebuch gesprochen hatte. Im Madrider Thyssen-Museum waren sechs Skulpturen aus August Thyssens Nachlass verzeichnet. In manchen Texten war auch schon mal von sieben Objekten die Rede. Nirgendwo aber wurden acht Rodins dieser Sammlung erwähnt.
Manni versuchte, sich an die Skulpturen zu erinnern, die er in der Sonderausstellung im Pariser Rodin-Museum gesehen hatte. Es waren genau die, die er auch hier auf der Webseite des Thyssen-Bornemisza-Museums gefunden hatte. An weitere konnte er sich nicht erinnern.
Er hörte plötzlich, wie ein Auto in die Einfahrt seines Hofes fuhr und den Kies zum Knirschen brachte. Bald darauf tauchte Paul auf der Terrasse auf. Er hielt eine Mappe in der Hand.
»Ach, nee! Da denkt man, der große Meister tut alles für seinen Ruhm und eine erfolgreiche Skulpturengartenführung. Stattdessen sitzt er hier in der Sonne und faulenzt!«
»Krieg dich ein!« konterte Manni. »Was hast du Schönes mitgebracht?«
Paul nahm sich einen Rattanstuhl von dem Stapel an der Wand und setzte sich zu Manni an den Tisch. Er wollte gerade die Mappe öffnen, da fiel sein Blick auf den Bildschirm.
»Ah! Thyssen Rodin! Auf den Geschmack gekommen?«
»Ja. Kann man so sagen. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem achten Rodin.«
»Wieso? Was stimmt nicht?«
»Es gibt definitiv sechs Rodins in der Thyssen-Sammlung. Möglicherweise existiert irgendwo auch noch ein siebter. Aber einen achten scheint es niemals gegeben zu haben.«
»Na gut«, Paul zuckte die Achseln, »dann hat sich Tante Hedwig wohl verzählt.«
»Möglich. Nur irgendwie ist die ganze Geschichte seltsam.«
»Es sind Tagebucheinträge eines Schulmädchens. Ich würde das nicht allzu eng sehen.«
»Warum erzeugt eine Skulptur schlechte Laune? War sie fehlerhaft? Rodin hatte etliche Gehilfen, die für ihn den Marmor gekloppt haben. Vielleicht hatte einer Mist gebaut und Rodin hatte es übersehen? Darf eigentlich nicht passieren! Aber noch merkwürdiger ist die Sache mit dem Namen. Immer wenn in den Tagebüchern eine Rodin-Skulptur erwähnt wird, dann wird sie beim Namen genannt. Da waren dann die Besucher zum Beispiel begeistert von Christus und Magdalena, oder beim Spielen versteckte sich die kleine Hedwig hinter der Geburt der Venus. Nur die Achte hat anscheinend keinen Namen. Sie ist einfach nur die Achte. Und es gibt sie sowieso nicht.«
Paul ahnte, dass Manni dabei war, sich in der Sache zu verrennen, deshalb suchte er nach einer pragmatischen Lösung, um seine Grübelei zu beenden. »Wenn der alte Thyssen in diesem Zeitraum, 1912 war es glaube ich, eine Skulptur bestellt oder erhalten hat, dann muss das irgendwo verzeichnet sein. Schreib’ doch mal an das Thyssen Archiv. Vielleicht haben die entsprechende Korrespondenz oder Zahlungsbelege, was auch immer. Die haben mir damals bei den Recherchen für mein Buch sehr geholfen. Heißt heute ThyssenKrupp Konzernarchiv. Die sitzen hier in Duisburg.«
Manni nickte still, dann zog er Pauls Mappe zu sich und öffnete sie.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.