»Wird Zeit, dass endlich Frühling wird«, seufzte Manni.
»Oh ja«, pflichtete Paul ihm bei. Er war aufgestanden und ans Fenster getreten.
»Eigentlich ganz nett. Ich könnte mir vorstellen, dass man es hier im Sommer gut aushalten kann. Apropos Sommer: Die Tour durch die Skulpturengärten sollten wir testweise im Sommer starten. Ich mache in den nächsten Tagen mal eine Kalkulation.«
Schritte näherten sich.
»Zucker und Milch nehmen Sie sich bitte selbst.«
Gerling kam mit einem Tablett herein. Der Kaffeeduft verdrängte den Muff auf angenehme Weise.
»Nach dem Kaffee werde ich Ihnen meine Reliquien zeigen.«
Gerling zog bedeutungsvoll die Brauen hoch und ließ keinen Zweifel daran, dass ihnen schon bald ein besonderes Privileg zuteil werden würde.
Paul unterließ es, seine Wortwahl zu korrigieren. Denn es war gut möglich, dass die Exponate für Gerling tatsächlich so etwas wie Reliquien waren. Die Exponate seines ganz privaten Arbeitermuseums.
***
Der schwer beladene Sprinter grub tiefe Rinnen ins regengetränkte Kiesbett, als er in Mannis Hof einbog. Manni hatte während der ganzen Fahrt kein einziges Wort gesprochen. Paul wusste, das war kein gutes Zeichen, und so verharrte er stumm auf dem Beifahrersitz.
Natürlich hätte er sich Gerlings »Erbschaft« vorher erst einmal ansehen sollen. Nun war es zu spät.
Gerling hatte sie voller Stolz auf seinen Dachboden voller alter Werkzeuge, Gerätschaften und Kisten geführt. Sein Urgroßvater hatte die Sammlung einst begonnen und an die nächste Generation weitervererbt. Jeder hatte dann etwas dazu beigetragen.
Da Gerling aber kinderlos geblieben war, war die Existenz seines Archivs bedroht. Um so glücklicher war er, dass es bei Paul nun in gute Hände kam.
Mannis Gesichtsausdruck zeigte jedoch nach flüchtigen Blicken in die eine und andere Kiste immer deutlichere Anzeichen von Entsetzen. Arbeitsjacken und Kittel, alte Betriebs- und Gewerkschaftszeitungen, Dosen mit Sandseife und mit Schnupftabak.
Das Meiste gehörte wohl eher auf den Sperrmüll oder in die Altkleidersammlung. Bestenfalls auf den Flohmarkt.
Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, schnappte sich Manni wortlos eine große Kiste und schleppte sie in den Schuppen, den er dafür freigeräumt hatte. Paul griff sich die sperrige lange Stahlarbeiterstange, an deren Ende eine Schöpfkelle angebracht war, und folgte ihm.
»Lass uns das erstmal in Ruhe sichten«, gab sich Paul versöhnlich. »Den Sperrmüll kann ich dann immer noch anrufen. Das eine oder andere lässt sich sicherlich auch bei Ebay verscherbeln.«
Manni setzte die Kiste ab und wollte gerade einen bissigen Kommentar anbringen. Als er jedoch Pauls betrübten Gesichtsausdruck bemerkte, musste er laut auflachen.
Paul sah ihn irritiert an.
»So sehen also Erbschaften aus, die Leuten wie uns vermacht werden«, kicherte Manni, und beide entspannten sich.
Nachdem alles ausgeladen und im Schuppen verstaut war, machten sie ein Bier auf und stießen mit den Flaschen an: »Auf die Freundschaft und die Zukunft!«
Paul nahm einen großen Schluck und ließ sich ein wenig erschöpft auf einer Kiste nieder. Trotz des kühlen Wetters war er bei der Arbeit ins Schwitzen gekommen. Obwohl Manni weitaus älter als Paul war, schien es ihm nichts ausgemacht zu haben.
Er öffnete eine Kiste und holte ein dickes Buch heraus. Den Titel zierte die Zahl 1910 in großer, goldener Schrift. Er schlug es auf und wirkte ein wenig überrascht.
»Handschrift. Scheint ein Tagebuch zu sein.«
Er blätterte zurück zur ersten Seite. »Ja. Tagebuch der Hedwig Goldacker.«
»Zeig mal!«
Paul war plötzlich hellwach. Alte Tagebücher faszinierten ihn. Manni reichte ihm das Buch und holte ein Weiteres aus der Kiste, das jetzt mit 1912 betitelt war. Sie blätterten eine Weile jeder für sich. Dann meldete sich Paul lachend zu Wort.
»Das hier ist witzig: In der Schule sprachen heute alle über einen Herrn Amundsen. Er will als erster Mensch den Südpol betreten. Mir würde das nicht gefallen, den ganzen Tag diese arge Kälte. Aber er ist Norweger und wahrscheinlich macht es den Leuten aus dem hohen Norden nicht gar so viel aus. «
Manni begleitete Pauls Lachen mit seinem typischen Kicherton. Dann zitierte er aus seinem Buch. »Hier steht auch was über Thyssen:
Herr Thyssen ist seit einigen Tagen mit nichts mehr zufrieden. Niemand kann ihm etwas recht machen. Man hört kein Schwatzen und kein Lachen mehr, wie wir es sonst gewohnt sind. Alle gehen nur noch still ihren Pflichten nach. Vater meint, es liegt alles nur an dem achten Rodin. Seit der aufs Schloß kam, ist unser Herr noch verbitterter geworden, als er es ohnehin schon war. «
»Rodin? Der Bildhauer? Der, mit dem Denker?«
»Ja. Auguste Rodin.«
»Wow! Ich wusste gar nicht, dass August Thyssen Kunstsammler war.«
»War er auch nicht. Jedenfalls nicht so wirklich. Aber er hatte Auguste Rodin einmal kennengelernt, als er in Paris war. Bei der Weltausstellung. Seitdem war er ein großer Fan von ihm. Er hatte bei ihm mehrere Skulpturen in Auftrag gegeben. Ich habe die mal im Pariser Rodin Museum gesehen. Es war eine Sonderausstellung. Normalerweise sind die Thyssen-Rodins in Madrid ausgestellt. Im Thyssen-Bornemisza-Museum.«
»Von wann ist der Eintrag?«
»Von 1912.«
»Dann ist wohl Schloss Landsberg gemeint. An der Ruhr, bei Kettwig. August Thyssen hat dort seit 1904 gewohnt.«
Paul hob seine Bierflasche in die Höhe. »Und was sagt uns das?«
Manni hob auch seine Bierflasche in die Höhe: »Ein Schloss schützt nicht vor schlechter Laune.«
»Oder«, ergänzte Paul, »Geld macht nicht unbedingt glücklich!«
Sie stießen an: »Auf die Freundschaft und die Zukunft!«
***
Die schwere Tür des Amtsgerichts fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Sabrina trat hinaus auf den Platz. Sofort schlug ihr eine ungewohnte Wärme entgegen und das grelle Sonnenlicht ließ sie für einen Moment innehalten.
Als ihre Augen sich an die unerwartete Helligkeit gewöhnt hatten, glaubte sie sich mit einem Mal in einem fernen Land. Noch vor ein paar Stunden hatte der Wind hier graue Gestalten durchs Schmuddelwetter getrieben. Doch nun herrschte eine beinahe mediterrane Frühlingsstimmung. Die weiße Fassade des Theaters mit ihren imposanten Säulen erstrahlte in gleißendem Licht, und auf den Bänken rund um die »schwebenden« Rasenflächen tummelten sich urplötzlich Menschen aller Altersklassen und Nationen.
Die meisten von ihnen sogen mit geschlossenen Augen die lang ersehnten Sonnenstrahlen auf. Andere hatten ihre Jacken und Pullover ausgezogen und benutzten sie als Decken, um es sich auf den Grünflächen bequem zu machen. Über allem lag eine friedliche, relaxte Atmosphäre.
Sabrina hatte ihren nächsten Gerichtstermin in zwei Stunden. Genug Zeit also, um noch einige Arbeiten an ihrem Schreibtisch in der Kanzlei zu erledigen, doch sie entschied sich dafür, lieber das schöne Wetter zu genießen.
Sie ließ sich von der Stimmung anstecken und bummelte gelassenen Schrittes an den Rasenflächen vorbei Richtung Königstraße, dem Shoppingboulevard der Stadt. Sie war kaum ein paar Meter gegangen, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
Sie sah sich um, und entdeckte Ruprecht auf einer der Rasenbänke. Er war leidlich bemüht, das Eis in seinem Waffelhörnchen mit heftigen Zungenschlägen daran zu hindern, auf sein Jacket zu tropfen. Als sie lächelnd auf ihn zuging, rückte er, um ihr Platz zu machen, ein wenig zur Seite, ohne die Bändigung seines dahinschmelzenden Speiseeises zu unterbrechen. Seine Sätze klangen deshalb etwas abgehackt.
»Sabrina, Darling, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu danken. Es war ein wunderschöner Abend bei dir. Und das Essen war einfach fantastisch.«
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