»Ach so!« Nun fiel der Groschen.
Gerade eben hatte er davon erzählt, dass die Arbeiter hier in der Gießhalle früher, nur durch eine Lederschürze geschützt, den Abstich von zweitausend Grad heißem Roheisen durchführten.
»Allerdings«, bestätigte Paul, »Und nicht nur das. Die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeiter war lange Zeit kein Thema, das man sonderlich ernst genommen hätte. Erst seit Mitte der 1970er-Jahre gibt es in der Bundesrepublik ein Arbeitssicherheitsgesetz. Bis dahin war es dem Gutdünken der Stahlbarone überlassen, ob sie sich um das Wohlergehen ihrer Arbeiter kümmerten oder nicht.«
Doch auch danach war es mit dem Wohlergehen nicht weit her, dachte Paul grimmig, hielt sich aber mit weiteren Ausführungen dazu zurück. Er wollte die Stimmung nicht versauen.
Ende der 1970er bis Mitte der 1980er-Jahre waren in der Stadt zehntausende Stahl- und Hüttenarbeiter entlassen worden. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Massenhafte Langzeitarbeitslosigkeit und kaum mehr bezahlbare Sozialausgaben für die einst reiche Stadt waren die Folge gewesen.
Dabei hatten die Malocher dieser Hütte hier noch Glück im Unglück gehabt. Als der Laden 1985 quasi über Nacht geschlossen wurde, musste erst einmal keiner von ihnen stempeln gehen. Sie wurden entweder auf andere Werke verteilt oder gingen in den Vorruhestand. Es waren ohnehin nur noch dreihundert von ehemals dreieinhalbtausend übrig gewesen. Pauls Vater war damals einer von denen, die ins Ruhrorter Werk gewechselt hatten.
»Die Gießhalle war sozusagen der Krönungssaal der Hüttenarbeiter«, sagte Paul.
Die Besuchergruppe versuchte, sich ein Bild davon zu machen, wie es hier damals wohl ausgesehen haben mochte. Außer der Rinne im Boden, durch die seinerzeit das flüssige Eisen rann, erinnerten nicht mehr allzu viele Details an die alte Produktionsstätte. Stattdessen prägten endlose Stuhlreihen das Bild. Und eine riesige Leinwand.
»Heute ist es hier nicht mehr so gefährlich«, fuhr Paul fort. »Man bekommt allenfalls Blähungen durch übermäßigen Popcorn-Genuss. An vierzig Nächten im Sommer kommen hier allabendlich mehr als tausend Kinofans ins Open-Air-Kino. Falls es mal regnen sollte, schiebt sich dann ein transparentes Folienkissendach über die Besucher.«
Die schwedische Gruppe schaute auf. Aber Paul erkannte, dass es weniger die Dachkonstruktion war, die sie beeindruckte, als vielmehr die bedrohlich dunkle Wolkendecke, die neuerliche Niederschläge verhieß.
»Ich glaube, wir haben uns jetzt etwas Wärmendes verdient«, seufzte er und sprach damit allen aus dem Herzen.
***
Am Restaurant des Parks, dem ehemaligen Hauptschalthaus, wurde die Gruppe von einer Mitarbeiterin der Tourismus-Agentur, für die Paul arbeitete, in Empfang genommen.
Paul hätte sich nun verabschieden können, denn sein Job war hier erledigt, doch der Gedanke an einen heißen Kaffee, veranlasste ihn, noch ein wenig bei der Gruppe zu bleiben.
Der größte Tisch mit der schönsten Aussicht war für sie reserviert. Es war angenehm warm und die Heißgetränke taten ihr Übriges, sodass schnell eine lockere und gelöste Stimmung aufkam.
Die Blonde hatte, wohl nicht zufällig, einen Platz neben Paul gefunden. Sie bedankte sich höflich bei ihm für die interessante Führung. Für das Wetter könne er schließlich nichts. Sie kündigte an, im Sommer wiederzukommen. Mit einem Kamerateam. Und sie hoffe doch sehr, dann auch Paul hier anzutreffen.
Paul machte keinen Hehl daraus, dass er sich geschmeichelt fühlte und sie tauschten ihre Visitenkarten aus. Er wollte Elsa, so hieß die Blonde, gerade beim Enträtseln der Speisekarte behilflich sein, da zeigte sein Smartphone, begleitet von einem melodischen, aber viel zu lauten Signalton, eine neue Nachricht an.
Eigentlich hätte er die Störung ignorieren müssen, doch das groß aufleuchtende Profilbild gehörte unverkennbar zu Sabrina. Sie meldete sich nie ohne Grund per Messenger. Er schob das Foto mit dem Daumen beiseite und las: »Vergiss bitte die Muscheln nicht!« Ein Küsschen-Smiley beendete den Satz.
»Ihre Frau?« Elsa lächelte ihr blondestes Lächeln.
Paul wollte erst zu einer Erklärung ansetzen, entschied sich dann aber für ein kurzes »Ja.« Schließlich waren Sabrina und er ja so etwas wie ein Ehepaar. Auch ohne Trauschein. Und die Muscheln hätte er tatsächlich beinahe vergessen. Er hatte Jakobsmuscheln beim Fischhändler auf dem Markt bestellt. Für das Essen heute Abend. Der Markt würde gleich schließen und er musste sich beeilen.
»Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich muss aufbrechen. Es war sehr schön. Wir bleiben auf alle Fälle in Kontakt.«
Er war aufgestanden, hatte seine Steppjacke schon wieder übergestreift und klopfte eilig ein paar Mal auf den Tisch, um sich auch von den anderen Gruppenmitgliedern zu verabschieden.
In Elsas Lächeln mischte sich ein Fragezeichen. Nichtsdestotrotz winkte sie ihm höflich zum Abschied.
Paul fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Natürlich würden sie nicht in Kontakt bleiben, dachte er. Dabei fand er sie durchaus sympathisch. Aber man sagte das halt so. Was machte er sich eigentlich einen Kopf? Manchmal verfluchte er sich dafür, dass ihm Gleichgültigkeit so gar nicht in die Wiege gelegt worden war.
***
Als er aus dem Restaurant trat, wurde er bereits erwartet. Vor ihm stand der Mann im Parka. Sein Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor.
»Herr Werner. Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Das ist gerade ganz, ganz schlecht. Was gibt es denn?«
Paul ließ sich auf seinem Weg zum Parkplatz nicht aufhalten. Der Mann im Parka folgte ihm.
»Mein Name ist Gerling. Ich habe früher hier auf der Hütte gearbeitet. Genau wie mein Vater. Und wie mein Opa.«
Paul nickte. So etwas hatte er sich schon gedacht.
»Ich habe zweimal an ihrer Führung teilgenommen und war jedes Mal begeistert«, ergänzte der Mann. »Ich habe auch ihr Buch gelesen.«
»Ach, Sie waren das!« witzelte Paul.
Sein Buch über die Entwicklung der Stadt zur Zeit August Thyssens, in das er vor zwei Jahren unglaublich viel Zeit und Arbeit investiert hatte, hatte sich zu seiner Enttäuschung als absoluter Ladenhüter erwiesen.
»Ich kenne niemanden, der auf diesem Gebiet auch nur annähernd so kompetent ist, wie Sie.« fuhr der Mann unbeirrt fort, »Vor allem aber keinen, der so wie Sie mit ganzem Herzen bei der Sache ist. Ich vertraue Ihnen voll und ganz.«
Paul wurde es langsam mulmig angesichts derartiger Lobhudelei. Worauf wollte der Mann hinaus? Zum Glück waren sie jetzt an seinem Auto angekommen und er musste das Gespräch wohl oder übel abkürzen.
»Vielen Dank«, sagte er. »Also, worum geht es?«
Der Mann zögerte einen Moment. Schließlich sah er Paul fest in die Augen.
»Ich möchte Ihnen ein Erbe vermachen.«
Paul starrte ihn entgeistert an. Dann stieg er in seinen Wagen und knallte die Tür ein wenig zu heftig zu. Nachdem er tief Luft geholt hatte, fuhr er das Seitenfenster hinunter.
»Brauchen Sie etwas vom Markt?«
Er machte eine einladende Geste in Richtung Beifahrersitz.
***
Der Heizstrahler verbreitete wohlige Wärme. Während die Skulptur, die er heute Morgen begonnen hatte, langsam trocknete, begann Manni Baumann, eine weitere Skulptur zu formen.
Er musste die Zeit nutzen. Schlechtwetterzeit war Arbeitszeit. Sobald es wärmer wurde, nahmen auch die Besuche zu. Nicht so sehr die der Kunstinteressierten. Sein Garten war zwar allgemein zugänglich, das öffentliche Interesse hielt sich jedoch in Grenzen. Vielmehr kamen dann regelmäßig und meist unangekündigt Freunde und Bekannte aus der Stadt und aus dem Umland.
Manni wollte es so. Er hatte ein offenes Haus und er liebte es, nette Leute um sich zu haben. Und seine Freunde liebten die inspirierende Mischung aus Kunst, Natur, Geselligkeit und Genuss, die Manni ihnen hier bot. Wer einmal seinen Garten besucht hatte, kam immer wieder.
Читать дальше