1. Einleitung
2. Armani und Wellblechhütten
Wie die Vietnamesen_innen leben
3. Ein gewaltiger Sprung vorwärts
Bildung
4. Die Mauer in den Köpfen
Vietnamesen_innen in Deutschland
5. Auf dem strikten Weg zum Sozialismus
Von der Aufrechterhaltung der Macht
6.Ungebremste Lust auf Zukunft
Wohin steuert Vietnam?
7. Tipps
Reiseeindrücke und Ratschläge
Literaturverzeichnis
Zeittafel
Impressum
„Durch Vietnam zu reisen ist wie ein Frontalangriff auf die Sinne. Zu ungewohnt die Geräuschkulisse, die ewig knatternden Mopeds, die teils ruppige Sprache, die intensiven Gerüche auf Märkten, das Essen und der manchmal doch recht gewöhnungsbedürftige hygienische Standard. Kurzum: Es ist alles komplett anders als bei uns – und wirkt dadurch faszinierend und rätselhaft zugleich“ (Schilling, o.D.)
Die Landschaften, das quirlige Gewühl auf den Straßen und nicht zuletzt die Kulturdenkmäler faszinieren. Die Ha-Long-Bucht, die Skulptur der Göttin der Barmherzigkeit in der Bút-Tháp-Pagode und die Steinskulpturen im Cham-Museum in Da Nang gehören zu dem Schönsten, was ich je gesehen habe. Ebenso faszinierend ist, wie sich Vietnam nach fast 100 Jahren nahezu ununterbrochenem Kriegszustand in nur wenigen Jahrzehnten entwickelt hat. Aber nach dem Besuch Vietnams blieben auch viele Rätsel. Mich hat das Land geradezu verwirrt. Ich hatte den Eindruck, dass ich nach der Reise weniger wusste als vordem. Dies war Anlass, mich vertiefter mit Vietnam zu beschäftigen und dieses Buch zu schreiben.
An Reiseführern mangelt es nicht, Informationen aber dazu, wie die Menschen in Vietnam leben, sind rar. In Deutschland gibt es nur wenige Wissenschaftler_innen, die sich mit Vietnam beschäftigen – und das meist auch nur sporadisch. Doch die wirtschaftliche Öffnung Vietnams hat den Nebeneffekt, dass die Weltbank und andere internationale Organisationen sich für das Land interessieren und mittlerweile etliche Studien veröffentlicht haben. Derartige Studien, die Lektüre der (englischsprachigen) vietnamesischen Presse und die eigenen Eindrücke bilden die Grundlage dieses Buches.
Teilgenommen habe ich gemeinsam mit meinem Mann an einer Pauschalreise „Höhepunkte Vietnams“. Wenn einem bei einer solchen Reise etwas rätselhaft vorkommt, fragt man meist die Reiseleitung. Natürlich kann auch diese nicht alles wissen. In Vietnam aber erzählen einem die Reiseleiter_innen auch nicht alles, denn Vietnam ist kein demokratisches Land. Meinungsfreiheit existiert nicht, Zudem gilt es, „das Gesicht zu wahren“. Vietnamesische Reiseleiter_innen werden nie zugeben, etwas nicht zu wissen.
Ziel des Buches ist es, einige der Rätsel zu lösen. Ich beginne mit zwei Kapiteln zu den Lebensverhältnissen: der sozialen Situation und den Bildungsmöglichkeiten. Anschließend folgt ein Kapitel über die in Deutschland lebenden Vietnamesen_innen: Deutsche fahren nach Vietnam und wissen nichts über die zahlreich in Deutschland lebenden Vietnamesen_innen? Gegenwärtig befindet sich Vietnam in einem enormen wirtschaftlichen Umschwung. Die Öffnung gegenüber dem nicht-sozialistischen Ausland wird nicht ohne Folgen für das politische System bleiben, kommen so doch neue Ideen ins Land. Manche befürchten gar, es könne zu Aufständen wie in China kommen. Hiermit setze ich mich anschließend auseinander. Zum Abschluss gibt es „Tipps“: Ich stelle meine Reiseeindrücke vor und liste auf, was bei einer Reise nach Vietnam berücksichtigt werden sollte. Um den Durchblick durch die wechselvolle Geschichte Vietnams zu erleichtern, habe ich eine kurze Zeittafel vorangestellt; eine Langfassung befindet sich im Anhang.
Viel Spaß beim Lesen
und bei der Reise durch das faszinierende Land!
1858 Frankreich unterwirft Vietnam und macht es zu seiner Kolonie.
1945 Am 2.9. proklamiert Ho Chi Minh die Unabhängigkeit. Am 23.9. erzwingt Frankreich die Wiedereinrichtung seiner Kolonialherrschaft. Anschließend beginnt der Befreiungskrieg gegen die französische Besatzung („Erster Vietnamkrieg“).
1954 Abzug der Franzosen und Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrades in die nördliche „Demokratische Republik Vietnam“ und die südliche „Republik Vietnam“.
1955 Beginn des Bürgerkriegs in Südvietnam.
1965 Die USA treten in den Bürgerkrieg ein („Zweiter Vietnamkrieg“).
1973 Kapitulation der US-Truppen.
1975 Nordvietnamesische Truppen erobern Saigon. (Die Stadt wird ein Jahr später in Ho-Chi-Minh-Stadt/HCMC umbenannt.)
1976 Wiedervereinigung unter kommunistischer Führung zur „Sozialistischen Republik Vietnam“.
1986 Beschluss der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) zur wirtschaftlichen Erneuerung (Doi Moi).
2. Armani und Wellblechhütten
Wie die Vietnamesen_innen leben
Wer nach Vietnam reist, erwartet viel Armut, nicht aber unbedingt Edelboutiquen, wie man sie auf dem Berliner Kurfürstendamm oder der Düsseldorfer Kö findet. Beides existiert in Vietnam nebeneinander. 195 Bürger_innen haben ein Vermögen von 20 Mio. US$ oder mehr. Selbst wenn sie daraus nur 1% Rendite erwirtschafteten, hätten sie das 100.000-fache eines vietnamesischen Durchschnittseinkommens. Das Wohlstandsgefälle ist in Vietnam größer noch als bspw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz.[1] Dabei nennt sich Vietnam „Sozialistische Republik“. Versteht man unter „Sozialismus“ ganz allgemein eine Gesellschaftsordnung, die nach den Prinzipien sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit aufgebaut ist, so ist Vietnam weit davon entfernt.
Durchschnittlich haben die Menschen im Jahr pro Kopf 1.960 US$ zur Verfügung. An sich schon kaum vorstellbar, dass man davon leben kann. Doch viele sind noch wesentlich ärmer. Jede_r Vierte zählt offiziell zu den Armen. Diese müssen mit höchstens 2,24 US$ pro Tag auskommen und acht Prozent haben sogar nur 1,25 US$.[2] Hinzu kommen noch viele, deren Einkommen nur wenig über der offiziellen Armutsgrenze liegt. Gegenwärtig versucht der Staat den Mindestlohn soweit anzuheben, dass ein Erwerbseinkommen zum Leben reicht.
Fischerdorf auf Phu Quoc
Vor gar nicht allzu langer Zeit war die Armut noch erheblich größer. Noch 1993 zählten 60% der Bevölkerung zu den Armen. Gemessen daran, hat Vietnam in den letzten zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht. Zurückzuführen ist dies auf die Neuausrichtung der Wirtschaft seit Ende der 1980er Jahre. Als 1986 der mächtige Generalsekretär der staatstragenden Kommunistischen Partei (KPV) Trường Chinh gestorben war kam es zu einem Generationswechsel, der die Einleitung einer „Politik der Erneuerung“ (Doi Moi) nach chinesischem Vorbild erleichterte. Der neu gewählte Generalsekretär Nguyễn Văn Linh soll sich wie folgt geäußert haben:
„Wir haben viele Rohstoffe und fleißige Leute; Vietnam muss nicht arm sein.“
Manche Autoren_innen bewerten diesen Politikwechsel weniger als radikale Veränderung, als vielmehr als Anpassung an das, was durch einen bereits 10 Jahre laufenden Prozess des Abweichens von den Diktaten der staatlichen Planung entstanden war (London 2006, 6). Privatunternehmen wurden zugelassen, der Finanz- und Warenverkehr wurde liberalisiert und Bauern erhielten ihre Hofparzellen zurück und können seither zusätzliches Land in Erbpacht erwerben. Mit den Reformen stieg das Angebot an Nahrungsmitteln sehr schnell und die Zeit des Hungerns war vorbei.
Bereits 1988 wurden die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aufgelöst und bäuerliche Familienbetriebe traten an ihre Stelle. Kurz danach (1993) wurden die Bedingungen noch einmal verbessert. Das Bauernland ist seither quasi Privateingentum, auch wenn es nach wie vor dem Staat gehört: Die Erbpachtzeiten wurden auf bis zu 50 Jahre (für Dauerkulturen) bzw. 20 Jahre (für Einjahreskulturen) verlängert und die Bauern können die Rechte zur Bewirtschaftung der Ländereien – die „Landbenutzungs-Zertifikate“ – jetzt an Dritte übertragen, tauschen, vererben, verpfänden sowie Zertifikate von anderen pachten. Mittlerweile exportiert Vietnam Nahrungsmittel und gehört sogar zu den größten Reisexporteuren der Welt.
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