Frau Chrapot schloß die Tür, zerrte des Fremden Stiefel von den Füßen, seine Kleider und Wäsche vom Leibe. Karl Duschnitz lag apathisch auf dem Tische und ließ alles mit sich geschehen. Auch als die Chrapot mit ihrem ganzen Körper den Tisch ruckweise bis zum Bett schob, regte er sich nicht. Er schaute mit weiten Augen auf die Zimmerdecke und atmete tief. Als ihn aber das Weib anpackte, um ihn ins Bett zu legen, schaute er sich zuckend in der Flößerstube um und fragte: »Was ist?«
»Ihr seid bei der Dampferexplosion ins Wasser gefallen, und mein Mann hat Euch hergebracht. Das ist unsere Wohnung. Ich will Euch jetzt ins Bett legen.«
Karl Duschnitz drückte seinen linken Zeigefinger der Länge nach auf die Schläfe und starrte vor sich hin. Er besann sich lange. Nach und nach schien ihm der Zusammenhang der Ereignisse klarzuwerden. Wie die Tafelrunde auf dem Dampfer zur Pfingstfahrt versammelt, das Schiff zur Abfahrt bereit war, wie Engelbert Naak irgend etwas von einer Musikkapelle sprach, plötzlich ein beispiellos furchtbarer Knall ertönte, wie er sich dann auf dem Wasser fand, eine Planke umfaßte und dann von einem fremden Mann in dessen Boot gezogen wurde.
»Wo ist Euer Mann?«
»Der ist fort«, sagt Chrapots Frau zerstreut. Sie hat den fremden Herrn, der ein so zartes Gesicht, so schmale, durchscheinende Hände und einen teuren alten Ring auf dem Finger hat, den fremden jungen Herrn, dessen erstaunlich feine Wäsche und Kleider auf dem Stuhle liegen, unverwandt angesehen, während er erwachte. Da er sie nun fragt und sie ihm antwortet, weilt ihr Sinnen anderswo.
Den Blick fühlt Karl Duschnitz. Er erwidert ihn scheu, ängstlich und sieht ein junges Weib. Etwas möchte er sagen, irgend etwas sagen – das Gespräch stockt schon unheimlich lange. Mühselig zwingt er sich zu einem Satz, aber während er spricht, ist ihm, als ob sein Bewußtsein im Wasser wäre: »Wohin – wohin ist denn – wo ist denn Euer Mann?«
»Der ist wieder zum Dampfer hingefahren. Auf mich wollte er nicht hören. Was kümmert sich der um mein Reden! Der kümmert sich gar nicht um mein Reden …«
Nur etwas sprechen, irgend etwas fragen, sie sind so unheimlich, diese Gesprächspausen.
»Ihr – habt auch Kinder?«
»Nein, Kinder haben wir nicht. Mein Mann ist krank …« Die Frau sagt den Satz im Tonfall der Resignation. Dann aber schaut sie auf, als ob sie ihn als Argument aufgefaßt wissen wollte. Ermunternd.
Duschnitz fühlt, wie sein fahles Gesicht jäh von Rot überströmt wird. Ein junges Weib. Eine derbe Nase, aber kein häßliches Gesicht. Gewiß nicht. Eher hübsch. Ja, hübsch. Plötzlich merkt er, und es scheint ihm, als träume er das, daß ihre Augen die seinen beobachten, daß sie erkennen möchte, wie die Prüfung ihres Gesichtes ausfallen werde. Ertappt gleitet sein Blick ab, tastet sich mühselig über die in eine blaugestreifte Kattunbluse eingezwängten Brüste, über starke Hüften. Eine dralle Person. Und er ist da allein in der Stube. Und nackt … Zitternd sucht er nach der Decke. Die Frau hat sich an den Bettrand gesetzt und atmet ein heißes Lächeln. »Musikkapelle spielen«, erinnert er sich unvermittelt. Seine Gedanken werden immer wirrer. Und er zieht die Frau an sich, zieht sie an sich.
Man kennt in Prag das Duschnitzsche Haus. Das große, rote Firmenschild des Selchers, der heute im Duschnitzschen Hause in der Rittergasse Laden und Werkstätte innehat, mag die prunkvolle Würde der Fassade stören, die durch Ruß, Staub und Witterung fast beinschwarz geworden ist – es bleibt doch eines der schönsten Gebäude der Stadt. Es hat nicht die höhnenden und einschüchternden Karyatiden mit Sklavengestalten, die die Balkone der Kleinseitner Adelspaläste auf ihren Nacken halten müssen, vielmehr ist hier der Torbogen von zwei unpersönlichen Eckpilastern flankiert, die durch ein Gesimse in der Mitte unterteilt sind und sich am oberen Ende in ein kapitälartiges Schneckengewinde einrollen. Portal, Fenster und Fassade sind überströmt von figuralen Zieraten und von architektonischen und Pflanzen-Ornamenten, die, in ausdrucksvollem, flachem, aber kräftig eingeschnittenem Relief behandelt, auf beiden Seiten der Fassade, an jedem Fenster und an jeder Hälfte des Tores ganz verschieden sind. Ein aus dem vollen schöpfender Steinmetz hat sich hier, zur Zeit, als niederländische Kupferstiche ihren Einfluß auf die Frührenaissance mächtig geltend zu machen begannen, im Auftrage eines reichen Bauherrn künstlerisch auszuleben versucht, während die Kunst des Architekten vornehmlich aus dem majestätischen Giebel und aus den Arkaden spricht, die im Hofe das erste Stockwerk mit kurzen, von Rustikabändern umwundenen Säulen einschließen.
Auch die erbeingesessenen Prager, die tausendmal an dem Duschnitzschen Hause vorübergegangen sind und der herrlichen Barockhäuser mehr kennen, pflegen nie vorbeizueilen, ohne mit einem Blick den Skulpturen an der schwarzen Front ihre Reverenz zu beweisen.
Alte Deutschprager, denen sich die in jeder kleineren Stadt wuchernde Anteilnahme, Neugierde und Tratschsucht im Laufe der Jahre schon zur Lust am Reminiszenzenerzählen gewandelt hat, wissen, wenn sie am Duschnitzschen Hause vorbeikommen, ihren jüngeren Begleitern vielerlei Historien. Sie berichten von einem der reichen Duschnitze, der einmal vor hundert Jahren in der Nacht durch Läuten an seiner Wohnungstür aus dem Schlafe geweckt wurde und sich, als er öffnete, dem Kaiser Franz gegenübersah, der eigens in der Postkutsche aus Wien nach Prag gekommen war, um ihn zur Bewilligung einer Staatsanleihe zu bewegen, sie erzählen von zwei Brüdern Duschnitz, die einander einmal auf dem Postamt begegnet waren, da ihnen beiden gleichzeitig – unabhängig voneinander – der Einfall gekommen war, einen auswärtigen Kommittenten dringend mit dem Abschluß eines Auftrages zu betrauen. Auch von dem letzten Sprossen dieses Altprager deutschen Patriziergeschlechts wissen sie, der schon bei Lebzeiten seiner Eltern durch und durch dekadent und sentimentalisch und ein romantischer Nichtstuer gewesen sei, so daß sein Vater, Roderich Duschnitz, die Hoffnung aufgeben mußte, jemals in Karl einen Chef des Bankhauses »D. Duschnitz« zu sehen, und sich zum Verkauf des Geschäftes an eine Bank genötigt sah; kurz nach dieser Transaktion sei der alte Roderich gestorben. Der aus der Art geschlagene Karl Duschnitz bewohne jetzt das Haus in der Rittergasse, ohne irgendeiner nützlichen Beschäftigung zu obliegen.
Die jungen Leute, ehemalige Mitschüler und Studiengenossen des Karl Duschnitz, die dessen Vater in das Haus gezogen hatte, um dem melancholischen, grüblerischen Karl fröhliche Gesellschaft zu sein, hatten sich dieser Aufgabe nach allen Kräften zu entledigen gesucht, indem sie im gastfreundlichen Duschnitzschen Hause allnachmittäglich und allabendlich zu allerhand Spielen und Späßen und zum Abenteueraustausch zusammengekommen waren und sich selbst famos unterhalten hatten. Nach dem Tode des alten Roderich Duschnitz hatten sie allmählich sogar eine fröhliche Selbstherrschaft in dem Hause installiert, ohne sich irgendwie dadurch abschrecken zu lassen, daß alle Ausstrahlungen ihrer übermütigen Jugendkraft in ihrem jungen, von ihnen allen geliebten Gastfreund keinen Widerschein fanden, daß dieser seines ihm selbst verhaßten Hanges zur zermarternden Schwermut durchaus nicht ledig zu werden vermochte.
Karl Duschnitz war gegen alle liebenswürdig, nett und gefällig gewesen, hatte ihr Bestreben voll anerkannt und sich auch, als er sich überzeugt hatte, daß dieses seinen Freunden kein Opfer sei, keinerlei Sorge mehr darüber gemacht, daß er ihnen Mühe bereite. Er hatte sich von keinem Spaß ausgeschlossen, zu dem sie ihn aufforderten, aber jeder im Freundeskreis hatte es selbst gefühlt, daß Karl allen diesen Vergnügungen innerlich fremd sei, ja sogar manchmal Abscheu davor empfinde.
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