Helmut Lauschke
Vorsatz - Nachsatz
Was Menschlichkeit betrifft
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Vorsatz - Nachsatz Was Menschlichkeit betrifft Dieses ebook wurde erstellt bei
Rassentrennung und Diskriminierung – der Judenstern
Todesstiege – Opfer unmenschlicher Grausamkeit
Die Räder rollen zurück
Die Zeit rennt dem Abschiednehmen davon
Auf der Suche nach Arbeit
Gespräch mit dem russischen Stadtkommandanten im Dachgeschoss
Aus der Begutachtung des Dr. “X”, der Hyne von Mensch mit dem sächsischen Dialekt
Der Psychiater als sachverständiger Zeuge
Der psychiatrische Spiegel – Vortrag von Professor Baródin
Impressum neobooks
Rassentrennung und Diskriminierung – der Judenstern
Was Menschlichkeit betrifft
Dem Vorsatz folgt die Tat, deren Bewertung bezüglich Sinn, Wert und Menschlichkeit der Nachsatz bringt.
Die Schikanen mehrten sich: Juden hatten den gelben Judenstern auf den Straßen zu tragen. Ihnen war der Besuch von Konzerten, Theatern und öffentlichen Versammlungen sowie die Benutzung öffentlicher Toiletten untersagt. Arische Bürger hatten alles Jüdische zu meiden. Sie durften sich nicht auf offener Straße mit ihnen unterhalten, sie weder in ihre Häuser einladen noch von ihnen eingeladen werden. Den Juden wurden die privaten Fahrzeuge mit Wagenpapieren und Führerschein abgenommen. Sie wurden Fußgänger, die vom Bürgersteig wegtraten, wenn ein Deutscher in Uniform entgegenkam, egal ob es ein alter, gehbehinderter Mann am Krückstock oder eine Mutter mit ihren Kindern war, die an beiden Händen ihre Taschen trug. Es war ein trauriger Anblick, wenn Eckhard Hieronymus mit Frau und Kindern oder allein durch die Straßen ging und in die Augen der Angst und Verzweiflung jener Menschen mit den blassen, verhärmten Gesichtern und dem gelben Judenstern über ihrer Brust sah. Er blickte in Kinderaugen von unbeschreiblicher Traurigkeit, die ihm das Herz zerrissen, weil er nicht aufschreien konnte, wie er hätte aufschreien sollen. Hinzu kamen die Fragen der Kinder, wenn sie aus der Stadt zurückgekehrt waren, die immer bohrender wurden. Sie waren so berechtigt, wie das Abschweifen im Antwortgeben oder das stumme Achselzucken unberechtigt waren. Es war eine Zeit der fürchterlichen Erkenntnis, dass es in Deutschland nach dem ersten Krieg, wo sich die Menschen nach dem inneren und äußeren Frieden sehnten, so etwas gab, dass es Menschen gab, denen die fundamentalen Menschenrechte abgesprochen wurden, nur weil sie Juden waren. Als ob das ein kriminelles Vergehen war.
Der gestiefelte Deutsche in Uniform hatte sich zum gefürchteten Monster erhoben. Dieses Monster hatte sich von den Maßstäben der deutschen Kultur weit entfernt und wurde von den arischen Mitbürgern, die den Mut hatten, den Verstand zu gebrauchen, zutiefst abgelehnt. Auch sie fürchteten sich vor der barbarischen Unmenschlichkeit, weil sie von Monat zu Monat unsicherer wurden, dass auch sie eines Tages von ihm ergriffen würden. Was sie auf den Straßen sahen und hinter sorgsam verschlossenen Türen hörten, war entsetzlich. Gute Menschen und bewährte Freunde, die den Beweis erbracht haben, ein Freund in der Not zu sein, gingen nun mit dem Judenstern, wurden bespuckt und misshandelt, und man konnte ihnen nicht helfen. Das System entschied über wertes und unwertes Leben. Menschen, vor allem Kinder, die wegen geistiger Behinderungen in Heimen zusammengefasst wurden, bekamen im Rahmen des Euthanasie-Programms die tödliche Injektion. Geisteskranke in Sanatorien und psychiatrischen Kliniken, denen die Unheilbarkeit testiert wurde, wurden auf die gleiche Weise „erledigt“. Die euthanasische Tötungsmaschine kam erst unter dem Druck der immer stärker gewordenen Proteste vonseiten der Kirchen zum Stehen.
Es war an einem Mittwochmorgen. Eckhard Hieronymus Dorfbrunner war auf dem Wege zum Domkapitel, wo ihn Bischof Rothmann für elf Uhr zu einem Gespräch gebeten hatte. Die Frühlingssonne strahlte über den Platz. Die erste Wärme tat gut nach einem strengen Winter, der durch die Knappheit an Heizmaterial die Kälte in die Wohnstuben brachte, wo die Menschen Jacken und Mäntel trugen, wenn sie sich zu Gesprächen und Lesungen trafen oder sich zu den Mahlzeiten an die Tische setzten. Die kleine Turmglocke hatte den Einmalschlag getan, der das Ende der ersten Hälfte der elften Stunde angab, als Eckhard Hieronymus über den Platz ging. Er sah einen älteren Herrn im schwarzen Mantel auf sich zukommen, der den Davidstern links in Höhe des obersten Mantelknopfes trug. Der Gang war müde und schwer, fast schlürfend. Das Gesicht war blass und von Falten durchzogen mit schlaffen Tränensäcken unter den Augen.
Der Herr sah zu Boden, kurz bevor sie im Abstand von gut drei Metern aneinander vorübergingen. Eckhard Hieronymus, dem der Herr mit dem Tragenmüssen des Judensterns so leid tat, dass er Gott um Vergebung dieser deutschen Schande bat, war sich beim Anblick des vertrauerten Gesichtes nicht klar, ob es Dr. Weynbrand war, der Kinderarzt, der seine beiden Kinder, einmal beim Scharlach von Anna Friederike und das andere Mal bei einer Gräserallergie mit asthmatischen Anfällen von Paul Gerhard, erfolgreich behandelt hatte. Als sie auf einer Linie waren, der eine in die eine Richtung und der andere in die entgegengesetzte Richtung ging, grüßte Eckhard Hieronymus den älteren Herrn, der mit dem Blick zum Boden zurückgrüßte. An der weichen Stimme, die aufgrund der diskriminierenden Ereignisse rau belegt und angebrochen war, erkannte er den Kinderarzt Dr. Weynbrand wieder. Sie sahen einander ins Gesicht und gaben sich die Hand, wissend, dass sie verbotene Dinge taten. „Ich freue mich, dass wir uns noch einmal sehen“, begann Eckhard Hieronymus, worauf Dr. Weynbrand erwiderte, dass es wohl das letzte Mal sei. „Wie meinen Sie das?“, fragte Eckhard Hieronymus. „Wir haben die Mitteilung bekommen, dass wir unsere Sachen packen sollen und uns in fünf Tagen auf dem Bahnhofsplatz einzufinden haben. Von dort werden wir mit unseren Kindern und Kindeskindern abtransportiert. Wohin wir gebracht werden, genau wissen wir es nicht. Doch wir haben ein ungutes Gefühl.
Man wird uns wohl mit Stumpf und Stiel ausrotten.“ Eckhard Hieronymus war fassungslos. Er versuchte ein passendes Wort zu finden und fand es nicht. Verquert und unpassend, er wusste es, und das Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf, als er dem Kinderarzt in das alt gewordene, sorgenzerrissene Gesicht mit den trüben dunklen Augen sah: „Soll das heißen, dass Sie und die anderen jüdischen Mitbürger Breslau verlassen?“ „Ja, das heißt es; wir können uns hier nur noch verabschieden. Mehr können wir füreinander nicht mehr tun.“ Dr. Weynbrand wunderte sich über das erstaunte Verhalten des Superintendenten Dorfbrunner. Da gab er ein wenig Nachhilfe zur letzten Orientierung, wie weit es mit den Juden gekommen ist: „Bekommen Sie denn nicht mit, dass seit Wochen die Juden aus allen Ecken Schlesiens und wahrscheinlich aus dem ganzen Reich zusammengetrieben und in verschlossenen Güterwaggons nach Osten transportiert werden. Es wird wohl das besetzte Polen sein, wo wir hingebracht und den Gerüchten zufolge in irgendwelche Lager gestopft und zu Tode behandelt werden.“
Eckhard Hieronymus befiel die Scham. Er schaute herunter auf die abgetragenen Schuhe mit den verschiedenfarbigen Schnürsenkeln des früher stets makellos gekleideten Kinderarztes, den die Kinder liebten, weil er immer lustig war, einen Scherz für sie auf Lager hatte und ihnen Süßigkeiten in einer Zeit gab, als diese in den Geschäften nicht zu kaufen waren. „Das tut mir sehr leid, Dr. Weynbrand, was Sie da sagen. Es ist für mich unfassbar.“ „Für mich ist es auch schwer vorstellbar, dass Menschen mit Kultur so etwas fertig bringen. Was für mich dabei so schmerzhaft ist, ist die Tatsache, dass die Menschen, die davon wissen, sich in Schweigen hüllen und es geschehen lassen, als wäre das in Ordnung. Ich darf ihnen sagen, dass Sie der Erste sind, der mich als Jude mit dem gelben Stern grüßt. Dafür danke ich ihnen. Die vielen Männer und Frauen, die über viele Jahre mit ihren Kindern in meine Praxis kamen, gehen an mir vorüber, als würden sie mich nicht kennen. Dabei gab es schwerkranke Kinder unter ihnen, denen ich mit viel Mühe das Leben gerettet habe.“
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