Bambi sprang hinaus. Eine ungeheure Freude ergriff ihn so zauberhaft stark, daß er sein Bangen im Nu vergaß. Er hatte im Dickicht nur die grünen Baumwipfel über sich gesehen, und darüber nur manchmal, nur in kleinen Durchblicken, verstreute blaue Sprenkel. Jetzt sah er das ganze Himmelsblau hoch und weit, und das beglückte ihn, ohne daß er wußte, weshalb. Von der Sonne hatte er im Walde nur einzelne, breite Strahlen gekannt oder das zarte Gerinnsel von Licht, das golden durch die Zweige spielt. Jetzt stand er plötzlich in der heißen blendenden Macht, deren unbedingtes Herrschen auf ihn eindrang, stand mitten in dem Glutsegen, der ihm die Augen schloß und das Herz öffnete. Bambi war berauscht; er war vollständig außer sich, er war einfach toll. Unbeholfen sprang er in die Höhe, dreimal, viermal, fünfmal auf dem Fleck, auf dem er stand. Er konnte nicht anders; er mußte. Es riß ihn, in die Höhe zu springen. Seine jungen Glieder spannten sich so kräftig, sein Atem ging so tief und leicht, und er trank mit dem Atem, trank mit allem Duft der Wiese so viel übermütige Heiterkeit, daß er eben springen mußte. Bambi war ein Kind. Wäre er ein Menschenkind gewesen, so hätte er gejauchzt. Aber er war ein junges Reh, und Rehe können nicht jauchzen, wenigstens nicht auf jene Art, in der die Menschenkinder es tun. Er jauchzte also auf seine Weise. Mit den Beinen, mit dem ganzen Körper, der sich in die Luft schleuderte. Seine Mutter stand dabei und freute sich. Sie sah, daß Bambi toll war. Sie sah, daß er sich in die Höhe warf, unbeholfen wieder auf demselben Fleck niederfiel, verdutzt und berauscht vor sich hin starrte und sich im nächsten Augenblick wieder in die Höhe warf, wieder und wieder. Sie begriff, daß Bambi nur die schmalen Rehstraßen des Waldes kannte, in den kurzen Tagen seines Daseins nur an die Beengtheit des Dickichts gewöhnt war, und daß er sich deshalb nicht vom Fleck rührte, weil er es noch nicht verstand, auf der offenen Wiese frei umher zu laufen. Sie duckte sich in die ausgestreckten Vorderläufe, lachte Bambi eine Sekunde an, war mit einem Schneller weg und sauste im Kreise umher, daß die hohen Grashalme nur so rauschten. Bambi erschrak und blieb regungslos. War das nun ein Zeichen, daß er zurück ins Dickicht sollte? Kümmere dich nicht um mich, hatte die Mutter gesagt, was du auch siehst und hörst; nur fort, so schnell wie möglich! Er wollte kehrtmachen und flüchten, wie es befohlen war. Da kam die Mutter plötzlich angaloppiert; in einem wunderbaren Rauschen fuhr sie daher, ruckte zwei Schritte vor ihm zusammen, duckte sich wie das erstemal, lachte ihn an und rief: »Fang mich doch!« Und im Hui stob sie davon. Bambi war verblüfft. Was sollte das heißen? Was war denn auf einmal mit der Mutter? Aber da kam sie schon wieder, so rasend schnell, daß man schwindlig werden konnte, stieß ihn mit der Nase in die Flanke, sagte eilig: »Fang mich doch!« und fegte davon. Bambi stürzte ihr nach. Ein paar Schritte. Aber gleich wurden die Schritte zu leichten Sprüngen. Es trug ihn, er glaubte zu fliegen; es trug ihn von selbst. Raum war da unter seinen Schritten, Raum unter seinen Sprüngen, Raum, Raum. Bambi geriet außer sich. Das Gras rauschte ihm herrlich in die Ohren. Es war köstlich weich, seidig zart, wie es an ihm vorbeistrich. Er jagte im Bogen, warf sich herum und pfeilte in einem neuen Kreis, warf sich wieder herum und flitzte weiter. Die Mutter stand schon eine Weile still, holte Atem und wendete sich nur immer nach der Seite, wo Bambi vorüberflog. Bambi raste.
Plötzlich ging's nicht mehr. Er hielt inne, kam mit zierlich gehobenen Läufen zur Mutter und sah sie glückselig an. Dann spazierten sie wohlgelaunt nebeneinander. Seit er hier draußen war, hatte Bambi den Himmel, die Sonne und die grüne Weite nur mit dem Körper gesehen, nur mit einem geblendeten, trunkenen Blick den Himmel; mit dem wohlig durchwärmten Rücken und den stärkenden Atemzügen die Sonne. Nun erst genoß er mit Augen, die Schritt vor Schritt von neuen Wundern überrumpelt wurden, die Pracht der Wiese. Da war kein Fleckchen Boden sichtbar wie drinnen im Walde. Da drängte sich Halm bei Halm um jedes Pünktchen Platz, schmiegte sich und schwoll in üppiger Pracht, bog sich unter jedem Tritt sanft zur Seite und richtete sich gleich wieder versöhnt empor. Der weite grüne Plan war besternt mit weißen Margeriten, mit den violetten und rot angelaufenen dicken Köpfen des blühenden Klees und mit den prunkvoll leuchtenden Goldknäufen, die der Löwenzahn in die Höhe hielt.
»Sieh nur, Mutter«, rief Bambi, »da fliegt eine Blume davon.«
»Das ist keine Blume«, sagte die Mutter, »das ist ein Schmetterling.«
Bambi sah entzückt dem Falter nach, der sich unendlich zart von einem Halm gelöst hatte und in taumelndem Flug dahinschwebte. Jetzt sah Bambi, daß viele solcher Schmetterlinge in der Luft über die Wiese hinflogen, scheinbar eilig und doch langsam, auf und nieder taumelnd, ein Spiel, das ihn begeisterte. Es sah wirklich aus, als ob es wandernde Blumen wären, lustige Blumen, die auf ihrem Stengel nicht stillhalten wollten und sich aufgemacht hatten, um ein wenig zu tanzen. Oder Blumen, die mit der Sonne herniederkamen, noch keinen Platz hatten und wählerisch umhersuchten, sich herabsenkten, verschwanden, als seien sie schon irgendwo untergekommen, aber gleich wieder emporstiegen, bald nur ein wenig, bald höher, um weiter zu suchen, immer weiter, weil die besten Plätze eben schon besetzt waren.
Bambi blickte ihnen allen nach. Er hätte so gerne einen von ihnen in der Nähe gesehen, hätte so gerne einen einzelnen genauer ins Auge gefaßt, aber das gelang ihm nicht. Sie glitten unaufhörlich ineinander. Er wurde ganz wirr davon.
Wie er dann wieder vor sich zu Boden sah, ergötzte ihn all das tausendfache, behende Leben, das da unter seinen Schritten aufstob. Das sprang und sprühte nach allen Seiten, kam als ein Tumult und Gewimmel zum Vorschein und versank in der nächsten Sekunde wieder in den grünen Grund; aus dem es aufgestiegen war.
»Was ist das, Mutter?« fragte er.
»Das sind die Kleinen«, antwortete die Mutter.
»Sieh nur«, rief Bambi, »hier springt ein Stückchen Gras. Nein ... wie hoch es springt!«
»Das ist kein Gras«, erklärte die Mutter, »das ist ein gutes Heupferdchen.«
»Warum springt es so?« fragte Bambi.
»Weil wir da gehen«, antwortete die Mutter, » ... es fürchtet sich.«
»Oh!« Bambi wandte sich zu dem Heupferdchen, das mitten auf dem weißen Teller einer Margerite saß.
»Oh«, sagte Bambi höflich, »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wir tun Ihnen gewiß nichts.«
»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte das Heupferdchen mit einer rasselnden Stimme. »Ich bin nur im ersten Augenblick erschrocken, denn ich sprach gerade mit meiner Frau.«
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Bambi bescheiden. »Wir haben Sie gestört.«
»Das macht nichts«, rasselte das Heupferdchen. »Weil Sie es sind, macht es nichts. Aber man weiß ja nie, wer es ist, der kommt, und man muß sich in acht nehmen.«
»Ich bin nämlich heute zum erstenmal in meinem Leben auf der Wiese«, erzählte Bambi. »Die Mutter hat mir ...«
Das Heupferdchen stand mit bockig vorgeducktem Kopf da, machte ein ernstes Gesicht und murrte: »Das interessiert mich nicht. Ich habe gar keine Zeit, mit Ihnen zu schwatzen, ich muß jetzt meine Frau suchen. Hopp!« Und weg war es.
»Hopp«, sagte Bambi verdutzt und bestaunte den hohen Sprung, mit dem es verschwand.
Bambi lief zur Mutter: »Du ... ich habe mit ihm gesprochen!«
»Mit wem?« fragte die Mutter.
»Nun, mit dem Heupferdchen«, erzählte Bambi, »ich habe mit ihm gesprochen. Es war so freundlich mit mir. Und es gefällt mir so gut. Es ist so wunderbar grün, und am Ende ist es so durchsichtig, wie kein Blatt es sein kann, auch das feinste nicht.«
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