Stefan Zweig - Marie Antoinette
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Für diesen gräßlichen gravitätischen Ernst, für diese Zeremonieenheiligkeit von Versailles hat Marie Antoinette weder als Kind noch als Königin je Verständnis gehabt; sie begreift die fürchterliche Wichtigkeit nicht, die hier alle Menschen einem Kopfnicken, einem Voranschreiten beimessen, und wird sie niemals verstehen. Von Natur aus eigenwillig, trotzig und vor allem hemmungslos aufrichtig, haßt sie jede Art Eingeschränktheit; als echte Österreicherin will sie sich gehen lassen, sich leben lassen und nicht ständig diese unerträgliche Wichtigtuerei und Wichtignehmerei erdulden. Wie sie sich zu Hause von ihren Schulaufgaben gedrückt hat, so sucht sie auch hier bei jeder Gelegenheit ihrer strengen Hofdame, Madame de Noailles – die sie höhnisch »Madame Etikette« nennt, – zu entwischen; unbewußt will dieses von der Politik zu früh verschacherte Kind das einzige, was man ihr inmitten des Luxus ihrer Stellung vorenthält: ein paar Jahre wirklicher Kindheit.
Ab er eine Kronprinzessin soll und darf nicht mehr Kind sein: alles verbündet sich, um ihr die Verpflichtung zur unerschütterbaren Würde in Erinnerung zu bringen. Die Haupterziehung fällt neben der frömmlerischen Obersthofmeisterin den drei Tanten zu, den Töchtern Ludwigs XV., drei sitzen gebliebenen bigotten und bösartigen Jungfern, deren Tugend auch das böseste Schandmaul nicht zu bezweifeln wagt. Madame Adelaide, Madame Victoire, Madame Sophie, diese drei Parzen, nehmen sich der von ihrem Gatten vernachlässigten Marie Antoinette scheinbar freundschaftlich an; in ihrem versteckten Schmollwinkel wird sie in die ganze Strategie des höfischen Kleinkriegs eingeweiht, sie soll dort die Kunst der médisance, der heimtückischen Bosheiten, der unterirdischen Intrige lernen, die Technik der kleinen Nadelstiche. Anfangs macht diese neue Lehre der kleinen unerfahrenen Marie Antoinette Spaß, arglos plappert sie die gesalzenen Bonmots nach, aber im Grunde widerstrebt ihre eingeborene Aufrichtigkeit solchen Böswilligkeiten. Sich zu verstellen, ihre Gefühle in Haß oder Zuneigung zu verbergen, hat Marie Antoinette zu ihrem Schaden niemals erlernt, und bald macht sie sich auch aus richtigem Instinkt von der Vormundschaft der Tanten frei: alles Unehrliche ist ihrer geraden und hemmungslosen Natur zuwider. Ebensowenig Glück hat die Komtesse de Noailles mit ihrer Schülerin; unablässig empört sich das unbändige Temperament der Fünfzehnjährigen, der Sechzehnjährigen gegen die »mesure«, gegen die abgezirkelte, immer an einen Paragraphen gebundene Tageseinteilung. Aber daran darf nichts geändert werden. Sie schildert selbst ihren Tag: »Ich stehe um neuneinhalb oder um zehn Uhr auf, kleide mich an und sage mein Morgengebet. Dann frühstücke ich und gehe zu den Tanten, wo ich gewöhnlich den König treffe. Das währt bis zehneinhalb Uhr. Hierauf, um elf, gehe ich mich frisieren. Zu Mittag ruft man meinen Hofstaat, und da dürfen alle eintreten, außer Leuten ohne Rang und Namen. Ich lege Rot auf und wasche mir vor den Versammelten die Hände, dann entfernen sich die Männer, die Damen bleiben, und ich kleide mich vor ihnen an. Um zwölf ist Kirchgang. Ist der König in Versailles, so gehe ich mit ihm, meinem Gatten und den Tanten zur Messe. Ist er abwesend, so gehe ich allein mit dem Herrn Dauphin, aber immer zur selben Zeit. Nach der Messe essen wir öffentlich zu Mittag, aber das ist um einhalb zwei Uhr zu Ende, denn wir essen beide sehr rasch. Hierauf gehe ich zum Herrn Dauphin, und wenn er beschäftigt ist, kehre ich in mein Zimmer zurück, ich lese, schreibe oder arbeite, denn ich mache für den König einen Rock, mit dem es nur langsam vorwärts geht, aber ich hoffe, daß er mit Hilfe Gottes in einigen Jahren fertig sein wird. Um drei Uhr gehe ich wieder zu den Tanten, bei denen sich der König um diese Zeit einfindet; um vier Uhr kommt der Abbé zu mir, um fünf Uhr der Klavierlehrer oder der Gesangslehrer, bis sechs Uhr. Um einhalb sieben gehe ich fast immer zu den Tanten, wenn ich nicht spazieren gehe. Du mußt wissen, daß mein Gatte fast immer mit mir zu den Tanten geht. Von sieben bis neun Uhr spielt man, aber wenn es schön ist, gehe ich spazieren, und dann findet das Spiel nicht bei mir, sondern bei den Tanten statt. Um neun Uhr speisen wir zu Abend, und wenn der König nicht da ist, essen die Tanten bei uns. Aber wenn der König anwesend ist, gehen wir nach dem Nachtessen zu ihnen. Wir erwarten den König, der gewöhnlich um dreiviertel elf Uhr kommt. Ich aber lege mich inzwischen auf ein großes Kanapee und schlafe bis zur Ankunft des Königs, aber wenn er nicht da ist, gehen wir um elf Uhr schlafen. So ist meine Tageseinteilung.«
In diesem Stundenplan bleibt für Amüsements nicht viel Raum, gerade danach aber verlangt ihr ungeduldiges Herz. Das jugendlich moussierende Blut in ihr möchte sich noch austollen, sie möchte spielen, lachen, Unfug treiben, aber sofort hebt dann »Madame Etikette« den strengen Finger und mahnt, dies und jenes und eigentlich alles, was Marie Antoinette wolle, sei unmöglich vereinbar mit der Stellung einer Dauphine. Noch schlimmer trifft es der Abbé Vermond mit ihr, der einstige Lehrer, jetzt ihr Beichtvater und Vorleser. Eigentlich hätte Marie Antoinette noch furchtbar viel zu lernen, denn ihre Bildung steht tief unter dem Durchschnitt: mit fünfzehn Jahren hat sie ihr Deutsch schon ziemlich vergessen, das Französische noch nicht völlig erlernt, ihre Schrift ist jämmerlich ungelenk, ihr Stil strotzt von Unmöglichkeiten und orthographischen Fehlern; noch immer muß sie sich die Briefe vom hilfreichen Abbé aufsetzen lassen. Außerdem soll er ihr täglich eine Stunde vorlesen und sie selbst zum Lesen zwingen, denn Maria Theresia fragt fast in jedem Brief nach der Lektüre. Sie glaubt nicht recht dem Bericht, daß ihre Toinette wirklich jeden Nachmittag liest oder schreibt. »Such Dir doch den Kopf mit guter Lektüre auszutapezieren,« mahnt sie, »sie ist für Dich notwendiger als für jeden anderen. Ich warte seit zwei Monaten auf die Liste des Abbé und fürchte, Du hast Dich damit nicht befaßt, und die Esel und Pferde haben die für die Bücher bestimmte Zeit weggetragen. Vernachlässige jetzt im Winter diese Beschäftigung nicht, da Du doch keine andere recht beherrschst, weder Musik noch Zeichnen, Tanz, Malerei oder andere schöne Wissenschaften.« Leider hat Maria Theresia mit ihrem Mißtrauen recht, denn mit einer gleichzeitig naiven und geschickten Art weiß die kleine Toinette den Abbé Vermond – man kann doch eine Dauphine nicht zwingen oder strafen! – so völlig zu umgarnen, daß die Lesestunde immer zur Plauderstunde wird; sie lernt wenig oder nichts und ist durch kein Drängen der Mutter mehr zu einer ernsten Beschäftigung zu bringen. Eine gerade, eine gesunde Entwicklung ist durch die zu früh erzwungene Ehe gestört. Dem Titel nach Frau, in Wirklichkeit noch Kind, soll Marie Antoinette bereits Würde und Rang majestätisch vertreten, anderseits noch auf der Schulbank die untersten Kenntnisse einer Volksschulbildung nachlernen; bald behandelt man sie als große Dame, bald wird sie gerüffelt wie ein kleines unmündiges Kind; die Hofdame verlangt von ihr Repräsentation, die Tanten Intrigen, die Mutter Bildung; ihr junges Herz aber will nichts, als leben und jung sein, und in diesen Widersprüchen des Alters und der Stellung, des eigenen Willens und jenes der andern entsteht in diesem sonst durchaus gerade gewachsenen Charakter jene unbändige Unruhe und Ungeduld nach Freiheit, die später Marie Antoinettes Schicksal so verhängnisvoll bestimmt.
Um diese gefährliche und gefährdete Stellung ihrer Tochter an dem fremden Hofe weiß Maria Theresia Bescheid, sie weiß auch, daß dieses viel zu junge, unernste und flatterige Geschöpf nie imstande sein wird, aus eigenem Instinkt alle die Fuchsfallen der Intrigen und Fallstricke der Palast-Politik zu umgehen. So hat sie ihr den besten Mann, den sie unter ihren Diplomaten besitzt, den Grafen Mercy, als getreuen Eckart beigegeben. »Ich fürchte«, hatte sie ihm mit wunderbarer Offenheit geschrieben, »das Übermaß an Jugend bei meiner Tochter, das Zuviel an Schmeichelei um sie, ihre Trägheit und ihren mangelnden Sinn für ernste Tätigkeit, und ich beauftrage Sie, da ich Ihnen ganz vertraue, darüber zu wachen, daß sie nicht in schlechte Hände gerate.« Die Kaiserin hätte keine bessere Wahl treffen können. Geborener Belgier, aber ganz der Monarchin ergeben, ein Mensch von Hof, aber kein Höfling, kühl denkend, aber darum nicht kalt, klarsinnig, wenn auch nicht genial, übernimmt dieser reiche, unehrgeizige Junggeselle, der nichts anderes im Leben will, als seiner Monarchin vollendet dienen, diesen Schutzposten mit allem erdenklichen Takt und rührender Treue. Scheinbar der Botschafter der Kaiserin am Hofe von Versailles, ist er in Wahrheit nur das Auge, das Ohr, die hilfreiche Hand der Mutter: wie durch ein Fernrohr kann, dank seiner genauen Berichte, Maria Theresia von Schönbrunn aus ihre Tochter beobachten. Sie weiß jedes Wort, das sie spricht, jedes Buch, das sie liest oder vielmehr nicht liest, sie kennt jedes Kleid, das sie anzieht, sie erfährt, wie Marie Antoinette jeden Tag verbringt oder vertut, mit welchen Menschen sie spricht, welche Fehler sie begeht, denn Mercy hat mit großer Geschicklichkeit das Netz um seinen Schützling ganz eng gezogen. »Ich habe mich dreier Personen aus dem Dienstpersonal der Erzherzogin versichert, ich lasse sie Tag für Tag durch Vermond beobachten, und ich weiß von der Marquise Durfort bis auf das letzte Wort, was sie mit ihren Tanten plaudert. Ich habe noch mehr Mittel und Wege, um zu erfahren, was sich beim König ereignet, wenn die Dauphine sich dort befindet. Dazu füge ich noch meine eigenen Beobachtungen, so daß es keine einzige Stunde des Tages gibt, von der ich nicht Rechnung legen könnte, was sie getan, gesagt oder gehört hat. Und ich dehne meine Nachforschungen immer nur so weit aus, als zur Beruhigung Eurer Majestät notwendig ist.« Was er hört und erspäht, berichtet dieser treuredliche Diener in völlig schonungsloser Wahrhaftigkeit. Besondere Kuriere übermitteln, weil der gegenseitige Postdiebstahl damals die Hauptkunst der Diplomatie darstellte, diese intimen, ausschließlich für Maria Theresia bestimmten Berichte, die dank verschlossener Umschläge mit der Aufschrift »tibi soli« nicht einmal dem Staatskanzler und Kaiser Joseph zugänglich sind. Manchmal allerdings wundert sich die arglose Marie Antoinette, wie rasch und genau man in Schönbrunn über jede Einzelheit ihres Lebens unterrichtet ist, aber nie ahnt sie, daß jener grauhaarige väterlich freundliche Herr der intime Spion ihrer Mutter ist und daß die mahnenden, geheimnisvoll allwissenden Briefe ihrer Mutter von Mercy selbst erbeten und abgestimmt sind. Denn Mercy hat kein anderes Mittel, um das unbändige Mädchen zu beeinflussen, als die mütterliche Autorität. Als Botschafter eines fremden, wenn auch befreundeten Hofes, ist es ihm nicht erlaubt, einer Thronfolgerin moralische Verhaltungsmaßregeln zu erteilen, er darf sich nicht anmaßen, die zukünftige Königin von Frankreich erziehen oder beeinflussen zu wollen. So bestellt er immer, wenn er etwas erreichen will, einen jener liebevoll strengen Briefe, die Marie Antoinette mit Herzklopfen empfängt und öffnet. Niemandem auf Erden sonst Untertan, hat dieses unernste Kind doch eine heilige Scheu, wenn sie die Stimme der Mutter – und sei es nur im geschriebenen Wort – vernimmt; ehrfürchtig beugt sie auch vor dem härtesten Tadel das Haupt.
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