»Das ist zum Sterben schrecklich, Ilse!« stöhnte ich, während sie meine Hand ergriff und mich hastig auf das Trottoir zog – eine Equipage raste um die Ecke.
Bis dahin waren uns nur wenige vorübereilende Menschen begegnet; die Mittagsglut machte die Straßen still und einsam. Nun aber scholl Trommeln und Pfeifen fern herüber.
»Die Wachtparade!« sagte Ilse aufhorchend mit einem wohlgefälligen Lächeln – alte, fünfundzwanzigjährige hannöversche Erinnerungen mochten wohl in ihr auftauchen.
Der Lärm kam rasch näher, und plötzlich flutete ein Menschenschwall in die Straße herein.
»Hu – guckt 'mal die an! Die hat hundert Jahre im Kleiderschrank gehangen!« schrie ein Junge und stellte sich vor Ilse hin. Er legte seine zwei Fäuste auf dem Kopf übereinander, um die Hutform anzudeuten, und schnitt eine Grimasse. Alles lachte und schrie durcheinander, und selbst unsere zwei Lastträger schmunzelten.
»Gassenjungen!« sagte Ilse verächtlich und hob steif den Kopf, während wir zu meiner Beruhigung gerade in eine stille Seitenstraße einbogen. »In Hannover sind die Leute doch manierlicher – da ist mir so was nie passiert!«
Jeder Nerv zitterte in mir, und die tiefste Niedergeschlagenheit überkam mich – Ilse, meine heilig respektierte Ilse war verhöhnt worden! ... Ich drückte ihre Rechte, die mich bis dahin geschützt und geleitet, leise tröstend und liebkosend an meine Wange und ließ meine müden, heißen Füße mechanisch weiterwandern.
Der Wachtparadenlärm hinter uns erlosch allmählich, und endlich hielten die Männer in einer abgelegenen, totenstillen, aber mit vornehmen Häusern besetzten Straße ... Wir standen vor einem düsteren Steinbau. Sämtliche Fenster im Erdgeschoß waren vergittert, und zu der hochgelegenen Hausthür führten Stufen mit einem schönen Eisengeländer. Das alte Haus mit seiner breiten, massiven Nordfront mochte wohl imposant sein; ich aber entsetzte mich vor den Fenstergittern, vor den geschwärzten Mauersteinen, auf die kein Sonnenschein fiel, und die reichgeschnitzte und verschnörkelte schwere Bohlentür mit dem ungeheuren, blitzenden Messingdrücker starrte mich an, wie ein dunkles, unheimliches Rätsel.
»Siehst du, Ilse, daß ich Recht hatte mit der Hinterstube?« rief ich verzweiflungsvoll. »Wir wollen umkehren!«
»Abwarten!« sagte sie und zog mich auf die Stufen hinauf. Die Lastträger nahmen das Gepäck auf die Schultern und traten hinter uns. Ilse klingelte. Gleich darauf wurde die Thür langsam zurückgeschlagen und ein alter Mann ließ uns eintreten. Eine ungewöhnlich hohe und weite Hausflur nahm uns auf. Wir standen auf einer glänzend polierten Steinmosaik – von Stein waren die breiten, gewundenen Treppen im Hintergrund und die zwei mächtigen Träger inmitten der Flur, die sich droben an der Decke in kühne Bogen spalteten. Diese Steinmassen hauchten eine köstliche Kühle aus, aber über sie hin breitete sich auch tiefer Schatten, ein kirchenartiges Dämmerlicht, das nicht einmal die über den Treppen hereinfallenden Sonnengluten zu durchströmen vermochten.
»Firma Claudius?« fragte Ilse.
Der Mann nickte steif, indem er mit sichtbarem Unwillen zurücktrat, um den beladenen Männern Raum zu geben.
»Hier wohnt Herr Doktor von Sassen?«
»Nein, hier nicht!« versetzte er rasch und trat nun mit vorgestreckten Armen den Leuten in den Weg. »Herr von Sassen wohnt in der Karolinenlust – da müssen Sie draußen rechts um die Straßenecke biegen –«
»O Herr Jesus, wir sollen wieder hinaus in die entsetzliche Hitze?« klagte Ilse mit einem Seitenblick auf mich.
»Thut mir leid,« sagte der Alte ungerührt und achselzuckend; »aber durch dieses Haus geht der Weg einmal nicht – und Ihr solltet doch wahrhaftig wissen, daß für dergleichen Dinge, für solch einen Huckepack, drüben in der Seitenstraße ein Thor ist!« fuhr er die Leute an und zeigte auf die Effekten.
In dem Augenblicke, wo er scheltend die Stimme erhob, fing auch im Hintergrund der Halle ein Hund an, zornig mitzukläffen. Dort führten Stufen zu einer Thür hinab. Auf diesen Stufen stand eine alte Dame in schwarzseidenem Kleide und buntbebändertem Häubchen und wischte einem zierlichen Pinscher, der jedenfalls eben von draußen hereingekommen war, mit einem Tuche sorgsam die kleinen Pfoten ab.
»Lassen Sie doch die Leute durchgehen, Erdmann!« rief sie freundlich herüber.
»Aber, Fräulein Fliedner, sehen Sie doch nur den Staub!« protestierte er so ängstlich, als hätten wir die ganze Asche des Vesuvs auf unseren Kleidern und Schuhen und könnten damit seinen sauber polierten Fußboden verschütten. »Und wenn nun gar Herr Claudius in der Hinterstube ist und die Leute über den Hof gehen sieht, so kann es Etwas geben, Fräulein Fliedner!«
»Ich schicke Dörte nachher gleich mit dem Besen herunter, und was die Schelte betrifft, so nehme ich sie auf mich,« beschwichtigte sie ihn. »Uebrigens ist Herr Claudius auf keinen Fall in der Hinterstube – binnen fünf Minuten will er ja nach Dorotheenthal fahren.«
Sie öffnete eigenhändig die Thür nach dem Hofe und winkte uns, durch die Halle zu kommen. Ein leises schelmisches Lächeln huschte über ihr feines Gesicht, als Ilse an ihr vorüberschritt und den betürmten Kopf dankend neigte; aber sie wandte sich rasch ab und stieg, den knurrenden Hund auf dem Arm, die Stufen wieder hinauf.
»Ein vernünftiges Frauenzimmer,« sagte Ilse befriedigt vor sich hin, als die Thür rasselnd hinter uns zugefallen war.
Das Wort »Hof« hatte mich förmlich elektrisiert – ich sah sofort das ganze Geflügel des Dierkhofes fröhlich aufflattern; aber davon war nichts zu sehen in dem großen kahlen Viereck, das wir betraten. Es wurde durch das Vorderhaus, zwei daranstoßende lange Seitenflügel und eine im Hintergrund hinlaufende Mauer gebildet. Den linken Flügel durchbrach ein großes weitoffenes Thor, in welches die Häuser der benachbarten Straße hereinsahen. Hohe Stöße neuer Kisten türmten sich auf dem reingefegten Pflaster, und die völlige Abwesenheit von Gardinen oder sonstigem Schmuck an den Fenstern der Hintergebäude ließ dieselben als das Geschäftslokal der Firma Claudius erkennen.
Eben, als wir in den Hof traten, zog ein Kutscher ein Paar feurige Pferde aus dem Stalle und führte sie nach einem hübschen hellausgeschlagenen Wagen, der vor der Remise stand.
Unsere Lastträger schritten schnurstracks auf eine inmitten der Mauer gelegene Thür zu, und wir folgten ihnen.
»Wohin wollen denn die Leute?« rief uns plötzlich eine Stimme in ziemlich kurzem Tone nach.
Ich zog meinen Hut noch tiefer in die Augen und hütete mich, den Kopf zu wenden – ich erkannte sofort die Stimme des alten Herrn im braunen Hut wieder, wenn sie auch jetzt nicht so weich klang, wie vor vier Wochen in der Heide ... Er war also doch in der Hinterstube, und jetzt »gab es Etwas«, wie der Alte in der Hausflur gesagt hatte ... Die zwei Männer blieben auch sofort wie auf militärisches Kommando stehen und wagten nicht, den Fuß weiter zu setzen. Nur Ilse wandte sich resolut um.
»Wir wollen zu Herrn von Sassen – ist's erlaubt, hier durchzugehen?« fragte sie höflich.
Es erfolgte keine Antwort; aber der Herr hatte jedenfalls mit der Hand zustimmend gewinkt, denn Ilse öffnete ohne Weiteres die Thür und ließ die Lastträger eintreten ... Diesmal mußte sie mich genau so, wie gestern Morgen auf dem Dierkhof, über die Schwelle schieben, denn ich stand wie versteinert ... Mein an das gleichförmige Graubraun und das ununterbrochenen Blütenrot der Heide gewöhntes Auge flog im ersten Augenblick völlig verständnislos über das Farbenmeer hin, das den weiten Plan da vor mir förmlich übergoß. Es war mir unmöglich, zu denken, daß diese tausendfarbig gemischten oder auch in scharf abgegrenzten Nüancen hinfließenden breiten Ströme Blumen, nichts als dicht aneinandergedrängte vielgestaltige Blumenkronen und Dolden sein könnten ... Jetzt erst begriff ich, wie menschliche Phantasie die Wunder der Märchenwelt hatte ersinnen mögen – wie eine ungeahnte einsame Zauberinsel schwamm dieses köstliche Blumenfeld inmitten der neuen Welt, die mir bis zu diesem Augenblicke so häßlich und graubestaubt erschienen war.
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