Auf das Bänkchen unter dem Ebereschenbaum flüchtend, machte ich mich daran, das Papier auf dem Knie zu glätten und die auseinanderfallenden Stücke zusammenzufügen. Es fehlte viel, zudem war die Handschrift eine sehr flüchtige; unter großer Mühe entzifferte ich folgende Stellen:
»Ich habe Dich nie belästigt, weil ich es Dir gegenüber für Ehrensache hielt, den eigenmächtig eingeschlagenen Weg auch selbständig zu gehen ... ›Die Verlorene‹ hat alles gethan, damit kein Schatten ihrer Laufbahn auf Dich zurückfalle – nie ist mein eigentlicher Familienname gegen andere über meine Lippen gekommen, nie habe ich durch irgendwelche Erkundigungen nach Dir und meiner ehemaligen Heimat den Verdacht erregt, als sei ich mit den Sassens verwandt – es hätte sie wahrlich nicht geschändet; denn – denke, wie du willst – ich sage es dennoch mit Stolz, man hat mich einstimmig das Wunder, den glänzendsten Stern unserer Zeit genannt.« ... Hier war ein Stück Papier abgerissen, es fehlte – aber auf der anderen Seite des Bogens las ich weiter: »Nun ist ein schweres Unglück über mich hereingebrochen – wohin soll ich gehen, wenn nicht zu Dir? ... Ich habe meine Stimme verloren, meine kostbare Stimme! Die Aerzte sagen, eine Badekur in Deutschland könne sie mir zurückgeben. Aber ich stehe da mit leeren Händen; durch die gewissenlose Verwaltung anderer ist mein Vermögen bis auf den letzten Groschen verloren gegangen ... Auf den Knieen liege ich vor Dir, die Du im Wohlleben schwimmst, die Du nie erfahren hast, was Not, grimme Not ist – ich könnte Dir viel erzählen von schlaflosen, qualvollen Nächten ... Vergiß nur einmal, nur auf eine Stunde, daß ich unfolgsam war, und gib mir die Mittel, mich zu retten! Was sind einige hundert Thaler für Dich, die« – über das Folgende lief die breite schwarze Spur des Wagenrades, die ohnehin blassen Schriftzüge waren total zerkratzt und verwischt. Auf einem herabhängenden Fetzen des zweiten Blattes stand noch ziemlich lesbar die Adresse der Schreiberin, und auf einem anderen die zwei Worte, die genügt hatten, meine Großmutter in schäumende Wut zu versetzen, die Unterschrift »Deine Christine«.
Wer war Christine? Dieses Wunder, der glänzendste Stern unserer Zeit? ...
Die Stelle »Auf den Knieen liege ich vor Dir!« machte auf mein einfaches, unverbildetes Gemüt einen ungeheuer dramatischen Eindruck. Ich sah sofort das schlankste Ritterfräulein aus einem meiner Bilderbücher in die Kniee sinken und die weißen Hände flehend erheben ... Und die Stimme hatte sie verloren, ihre kostbare Stimme! ... Meine Hände fuhren unwillkürlich nach dem Halse – wie mußte das entsetzlich sein, wenn man mit voller Brust aushob, um die Töne hinausklingen zu lassen, und die Kehle versagte und blieb stumm!
Weder Fräulein Streit noch Ilse hatten je auch nur mit einer Silbe jener »Verlorenen« gedacht, und doch mußte sie meiner Großmutter sehr nahe gestanden haben, denn sie war ihr letzter Gedanke gewesen. Jetzt erst erschütterte mich das feierliche »Christine, ich verzeihe!« in tiefinnerster Seele; unwillkürlich mußte ich an den verlorenen Sohn denken, der im tiefsten, stillsten Herzenswinkel des Vaters doch das geliebte Kind geblieben war.
Ich steckte die Briefreste in meine Tasche und ging hinein auf den Fleet. Eben rollte die Chaise aus dem Gatterthor und bog, bedenklich schwankend, in den nach links führenden schauderhaften Heideweg ein, und von der entgegengesetzten Seite her kam Heinz auf den Dierkhof zugetrabt. In diesem Augenblick erst fiel es mir auf, daß er ja stundenlang verschwunden gewesen war. Ich trat neben Ilse, die den Doktor bis an das Hausthor begleitet hatte und auf der Schwelle stehen geblieben war ... Es wollte mir scheinen, als käme Freund Heinz sehr unsicher daher; er machte sich erst noch in völlig unnützer Weise mit dem Gatter zu schaffen, ehe er es unternahm, auf uns zuzuschreiten – das wurde ihm offenbar blutsauer. Beim Anblick unserer verweinten Gesichter blieb er verwirrt stehen.
»Nu, was hat er denn gemeint?« fragte er verlegen stockend, indem er mit dem Daumen über die Schulter zurück nach dem wegfahrenden Doktor zeigte.
»Mein Gott, Heinz, du weißt es nicht?« rief ich, aber Ilse unterbrach mich mit barscher Stimme.
»Wo warst du?« fragte sie kurz und bündig den Bruder.
»Bei mir zu Hause,« antwortete er trotzig.
Heinz trotzig! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht; aber da stand er trotz alledem, der ewig Nachgebende, und schöpfte offenbar Mut aus seinem eigenen widersetzlichen Ton, denn nun verstieg er sich auch noch zu der unglaublichen Kühnheit, Ilses feindlich scharfen Blick zu parieren.
»So – was war denn nachts um Eins so nötig bei dir zu Hause? – Hast wohl deinen Vogel füttern müssen!« sagte sie schneidend.
Er sah ängstlich und unsicher auf. »O je – nachts um Eins den Vogel füttern – wie werd' ich denn so dumm sein! Zwischen meine vier Wände hab' ich mich gesetzt,« platzte er heraus, »die hat mein Vater mit seinen ehrlichen Händen gebaut, und ein frommer Spruch steht über der Thür ... Wie werd' ich denn auf dem Dierkhof bleiben, wenn eine Judenseele geradewegs in die Hölle fährt! ... Ilse, wenn das mein Vater wüßte, daß du bei einer Judenfrau gedient hast!«
»Heinz, wenn das mein Vater wüßte, daß du bei einem Christen gedient hast, wo du halb verhungert und erfroren bist, und der dir alle Tage mit Ohrfeigen und Stockprügeln gedroht hat!« parodierte sie ihn zornig. »Das ist mir ja eine ganz neue Weisheit, die du da auskramst, und die hast du von da drüben!« Sie zeigte nach der Richtung eines großen Dorfes hinter dem Walde, wo Heinz in früheren Jahren als Knecht gedient hatte.
»Ja, hast Recht, von dort her hab' ich's!« versetzte er trotzig wie vorher und nickte verstockt mit steifem Nacken. »Die Juden sind verflucht bis in alle Ewigkeit, weil sie den Heiland gekreuzigt haben. Mein Herr hat's gesagt, und das war ein Reicher und ein Hofbesitzer, und der Pfarrer hat's von der Kanzel gepredigt, und der muß es noch besser wissen – dafür war er der Pfarrer!«
Ilse sah dem Sprecher scharf ins Auge. »Jetzt paß auf!« setzte sie kurz und resolut hinzu und trat ihm mit aufgehobenem Zeigefinger so nahe, daß er ängstlich zurückwich. »Es ist ein für allemal nicht wahr, daß der Heiland von unserm Herrgott bis in alle Ewigkeit gerächt sein will! Wenn er das zuließe, nachher wär's aber auch aus und vorbei mit meinem Glauben, denn er hat uns geboten: ›Segnet, die euch fluchen‹, und thät's selber nicht! ... Wenn ich Christi Leidensgeschichte lese, dann hab' ich freilich allemal einen Heidenzorn auf die Juden, aber, wohlgemerkt, Bruder Heinz, nur auf die Juden, die dazumal gelebt haben ... Wie werd' ich denn so ein Unmensch sein und meinen Zorn an Leuten auslassen, die bis auf den heutigen Tag als unschuldige Kinder auf die Welt kommen und von ihren Eltern in der alten Lehre auferzogen werden! ... He, Musje Heinz, wie gefiele dir denn das, wenn irgendein Mensch mir etwas zuleide thäte, und ich wollte seine Kinder dafür schlagen?«
»Das ist lauter Studiertes!« sagte Heinz kleinlaut, »das hast du alles von der alten Frau gelernt –«
»Das hab' ich nicht gelernt wie die Bibelsprüche in der Schule; das hat mir mein Gewissen und,« sie deutete auf ihre Stirn, »der gesunde Menschenverstand gesagt ... Gesprochen hab' ich freilich im Anfang viel mit meiner armen Frau, und es hat ein Wort das andere gegeben, und ich hab' sie manchmal beruhigt, wenn ›die Leute im schwarzen Rock‹ Unheil angerichtet hatten ... Die Juden haben den Heiland einmal gekreuzigt; aber solche, wie der Herr Pfarrer dort drüben,« sie zeigte abermals nach dem Dorfe hinter dem Walde, »die kreuzigen ihn alle Tage – Feuer und Schwert und Verfluchen und böse Worte, die machen das Reich Christi gar nicht fein, und ist es den Leuten nicht zu verdenken, wenn sie nicht hinein wollen! ... Da hast du meine Meinung, und nun sage ich noch zu dir selber: Pfui, schäme dich in dein Herz hinein, du undankbarer Mensch! Hast lange Jahre das Brot auf dem Dierkhof gegessen – und ich meine, es ist dir recht gut bekommen, das Judenbrot- und nun lässest du die alte Frau in ihrer Sterbestunde allein – geh heim und lies das Kapitel vom barmherzigen Samariter!«
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