»Jage ihn weg!«
»Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn«, erwiderte Ganja stolz. »Nun ja, ja, ich gebe zu, daß ich ihn auch hasse!« rief er dann plötzlich in maßloser Wut. »Und das werde ich ihm ins Gesicht sagen, wenn er auf seinem Sterbebett im Verscheiden liegen wird! Wenn du seine Beichte gelesen hättest – o Gott, was für eine naive Frechheit! Das ist ja der Leutnant Pirogow in der Färbung der Trägödie, und vor allen Dingen ein unreifer Bube! Oh, mit welchem Genuß hätte ich ihn damals durchgeprügelt, namentlich um ihn in Erstaunen zu versetzen! Jetzt rächt er sich an allen dafür, daß ihm sein Selbstmord damals nicht gelungen ist ... Aber was ist das? Das ist ja schon wieder Spektakel! Ja, was hat denn das zu bedeuten? Ich kann das schließlich doch nicht länger dulden. Ptizyn!« rief er dem ins Zimmer tretenden Ptizyn zu. »Was ist denn das? Wie weit wird denn dieser Unfug bei uns noch gehen? Das ... das ...«
Aber der Lärm kam schnell näher; die Tür wurde aufgerissen, und der alte Iwolgin, vor Zorn dunkelrot und zitternd, stürzte ganz außer sich ebenfalls auf Ptizyn los. Dem Alten folgten Nina Alexandrowna, Kolja und hinter allen Ippolit.
Ippolit war schon vor fünf Tagen in Ptizyns Haus übergesiedelt. Das hatte sich in ganz natürlicher Weise so gemacht, ohne viele Worte und ohne irgendwelches Zerwürfnis zwischen ihm und dem Fürsten; sie hatten sich nicht gezankt, sondern waren sogar äußerlich als gute Freunde voneinander geschieden. Gawrila Ardalionowitsch, der an dem damaligen Abend eine so feindliche Haltung gegen Ippolit angenommen hatte, war schon am dritten Tag nach jenem Ereignis gekommen, um den Kranken zu besuchen, wobei er sich wahrscheinlich durch irgendeinen Einfall, der ihm plötzlich gekommen war, leiten ließ. Aus irgendeinem Grund hatte auch Rogoschin angefangen, dem Kranken Besuche zu machen. Der Fürst war in der ersten Zeit der Meinung gewesen, daß es für den »armen Knaben« sogar das beste sein würde, wenn er aus seinem Haus wegzöge. Aber schon während seines Umzugs hatte sich Ippolit dahin geäußert, er siedele zu Ptizyn über, »der so freundlich sei, ihm Unterkunft zu gewähren«, und hatte wie mit Absicht niemals gesagt, er ziehe zu Ganja, obgleich gerade Ganja darauf gedrungen hatte, daß er ins Haus aufgenommen wurde. Ganja hatte das gleich damals beachtet, es übelgenommen und sich ins Gedächtnis eingeprägt.
Er hatte recht, als er zu seiner Schwester sagte, daß der Kranke sich erholt habe. Tatsächlich ging es Ippolit etwas besser als vorher, was man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte. Er trat langsam in das Zimmer ein, hinter den andern, mit einem spöttischen, häßlichen Lächeln auf dem Gesicht. Nina Alexandrowna sah sehr erschrocken aus. (Sie hatte sich im letzten halben Jahr sehr verändert, indem sie stark abgemagert war; seit sie ihre Tochter verheiratet hatte und zu ihr gezogen war, hatte sie fast ganz aufgehört, sich äußerlich in die Angelegenheiten ihrer Kinder hineinzumischen.) Koljas Miene war sorgenvoll und zeigte eine verständnislose Verwunderung; er begriff vieles von den »irren Reden« des Generals nicht, wie er sich ausdrückte, und das war auch natürlich, da er die Hauptursachen dieser neuen Aufregung in der Familie nicht kannte. Aber es war ihm klar, daß der Vater jetzt stündlich und überall dermaßen krakeelte und sich auf einmal so stark verändert hatte, daß man meinen konnte, er sei ein ganz anderer Mensch geworden wie früher. Es beunruhigte ihn auch, daß der Alte in den letzten drei Tagen ganz aufgehört hatte zu trinken. Er wußte, daß er sich mit Lebedjew und dem Fürsten veruneinigt und sogar gezankt hatte. Kolja war soeben mit einem halben Stof Branntwein nach Hause zurückgekehrt, das er für sein eigenes Geld gekauft hatte.
»Wirklich, Mama«, hatte er noch oben zu Nina Alexandrowna gesagt, »wirklich, mag er lieber trinken! Er hat jetzt schon seit drei Tagen keinen Branntwein angerührt; er muß einen stillen Kummer haben. Wirklich, wir wollen ihn lieber trinken lassen; ich habe ihm ja auch ins Schuldgefängnis Branntwein gebracht ...«
Der General öffnete die Tür sperrangelweit und stellte sich, zitternd vor Entrüstung, auf die Schwelle.
»Mein Herr!« schrie er mit donnernder Stimme seinem Schwiegersohn Ptizyn zu. »Wenn Sie tatsächlich beschlossen haben, einen achtungswerten alten Mann, Ihren Vater, das heißt wenigstens den Vater Ihrer Frau, der seinem Kaiser treu gedient hat, so einem Milchbart und Atheisten aufzuopfern, so wird mein Fuß von dieser Stunde an die Schwelle Ihres Hauses nie wieder betreten. Wählen Sie, mein Herr, wählen Sie unverzüglich: entweder ich oder dieser ... dieser Bohrer! Ja, dieser Bohrer! Der Ausdruck ist mir zufällig in den Mund gekommen; aber dieser Mensch ist ein Bohrer! Denn er bohrt in meiner Seele herum wie ein Bohrer, ohne allen Respekt ... ja, wie ein Bohrer!«
»Bin ich nicht eher ein Pfropfenzieher?« fragte Ippolit.
»Nein, kein Pfropfenzieher; denn du hast einen General vor dir und keine Flasche. Ich besitze Orden und Ehrenzeichen; aber du, du hast nichts, gar nichts. Entweder er oder ich! Entscheiden Sie sich, mein Herr, sofort, sofort!« schrie er Ptizyn wieder wütend an.
In diesem Augenblick stellte ihm Kolja einen Stuhl hin, und er sank fast ganz erschöpft auf ihn nieder.
»Es wäre wirklich das beste, wenn Sie sich schlafen legten«, murmelte Ptizyn, der ganz betäubt war.
»Er droht noch!« sagte Ganja halblaut zu seiner Schwester.
»Schlafen legen!« schrie der General. »Ich bin nicht betrunken, mein Herr; Sie beleidigen mich. Ich sehe«, fuhr er, wieder aufstehend, fort, »ich sehe, daß hier alle gegen mich sind, alle. Genug! Ich werde fortgehen ... Aber wissen Sie, mein Herr, wissen Sie ...«
Man ließ ihn nicht zu Ende reden und veranlaßte ihn, sich wieder hinzusetzen; man bat ihn, sich zu beruhigen. Ganja ging wütend in eine Ecke. Nina Alexandrowna zitterte und weinte.
»Aber was habe ich ihm denn getan? Worüber beklagt er sich denn?« rief Ippolit grinsend.
»Sie hätten ihm nichts getan?« sagte Nina Alexandrowna. »Es ist von Ihnen eine besondere Schändlichkeit und Unmenschlichkeit, einen alten Mann zu quälen ... und noch dazu in Ihrer Lage.«
»Erstens, von welcher Art ist denn meine Lage? Ich schätze Sie, gerade Sie persönlich, sehr hoch; aber ...«
»Er ist ein Bohrer!« schrie der General; »er bohrt in meiner Seele und in meinem Herzen herum! Er will, daß ich an den Atheismus glauben soll! Wisse, du Milchbart, daß ich schon mit Ehren überschüttet war, als du noch gar nicht geboren warst! Du bist weiter nichts als ein neidischer Wurm, der in zwei Stücke zerrissen ist und hustet ... und vor Bosheit und Unglauben stirbt ... Warum hat dich Ganja bloß hierher gebracht? Alle sind sie gegen mich, von den Fremden angefangen bis zu meinem eigenen Sohn!«
»So hören Sie doch auf mit dem falschen Pathos!« rief Ganja. »Sie sollten nicht in der ganzen Stadt Schande über uns bringen; das wäre besser!«
»Wie? Ich bringe Schande über dich, du Milchbart? Über dich? Ich kann dir nur Ehre bringen, aber keine Unehre!« Er schrie und ließ sich nicht mehr halten; aber auch Gawrila Ardalionowitsch hatte offenbar alle Selbstbeherrschung verloren.
»Sie reden noch von Ehre!« rief er boshaft.
»Was hast du gesagt?« donnerte der General, der blaß wurde und einen Schritt auf ihn zu trat.
»Ich brauche ja nur den Mund aufzutun, um ...«, schrie Ganja, ohne den Satz zu Ende zu sprechen.
Beide standen einander gegenüber; sie zitterten vor Wut, besonders Ganja.
»Ganja, was sprichst du da!« rief Nina Alexandrowna und stürzte auf ihren Sohn zu, um ihn aufzuhalten.
»So ein törichtes Gerede von allen Seiten!« sagte Warja entrüstet in scharfem Ton. »Hören Sie auf, Mama!« fügte sie hinzu und faßte ihre Mutter an.
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