Lisa starrte auf den Korken, der von den meisten Muscheln und dem Seetang befreit worden war.
Gefangen im Nichtigen Reich,
Unerhört ihre Geschichte,
Sie brauchen
Hilfe
Bald!
Unbekannterweise
Aus ganzem Herzen
Respektvolle Grüße an
…
„An wen diese Zeilen adressiert sind, ist nicht zu erkennen…!“, murmelte Lisa mehr zu sich selbst, währendAlwin sanft meinte: „Hm, Liebling, vielleicht legst du dich wieder etwas nieder!“ Dann nahm er Lisa den Korken aus der Hand. Er konnte die Schriftzüge jedoch nicht leugnen und wiederholte kopfschüttelnd die eingeritzten Worte. Schließlich ergänzte er, „Eine moderne Form, Grüße zu schicken. Wir leben ja im Zeitalter permanenter kommunikativer Erneuerungen. Vermutlich haben wir hier auf unserem Strand übersehen, dass Apple ein neues Tablet auf den Markt brachte! Aber wie dem auch sei…!“
Er sah kurz auf, ob sich seine Frau ein Lächeln abringen würde. Doch nichts dergleichen geschah. So fuhr er seufzend fort, „Tja, leider sitzt eine besonders ausdauernde Muschel über den Namen. Das dauert Wochen, bis die Anhaftung am Korken nachlässt. Das sagt der Biologielehrer in mir. Mr Holmes, da ist nichts zu machen! Um die Adressaten herauszufinden, müssen wir warten, bis die Muschel sich ablöst. Wenn wir versuchen, das Schalentier gewaltsam zu entfernen, wäre die Schrift vermutlich völlig unleserlich! Watson. Ende.“ Mit übertriebenem Ernst verschränkte er die Hände. „Aber dann können wir die Grüße ja weiterleiten!“
„Alwin, hör doch auf, vielleicht braucht jemand Hilfe!“, entgegnete Lisa ungeduldig, bereute es aber sofort. Paragleiter wurden durch einen Fallwind zur Stirnmitte gedrückt und Alwin meinte energisch, „Lisa, du mußt überhaupt niemanden retten! Das ist ein Stück Treibgut, das hat nichts zu bedeuten!“ Er beugte sich zu seiner Frau herab und sah ihr tief in die Augen.
„Nichts zu bedeuten?! Aber da steht doch, dass irgendwer ohne seine Geschichte rumläuft, genauso wie ich!“ Obwohl Lisa schwieg, spürte Alwin Maracellas Worte und ihren Blick. Ihr junges Gesicht sprühte vor Energie. Lisa hatte kurz den Eindruck, als wäre Maracella eine weise Furie, die sich gegen den Dämon der Vergessenheit wehrt wie eine ihren Nachwuchs verteidigende Wolfsmutter.
Alwin sah lange in die Augen seiner Frau. „Gut Lisa, mag sein, dass es eine Botschaft ist…“
Den Rest des Tages war Alwin besonders fürsorglich und verbrachte den größten Teil des Nachmittags mit Lisa innerhalb der Hütte. Als sie abends in ein nahe gelegenes Dorf essen gingen, fasste Lisa einen Entschluss. Bei einem Glas Cherry meinte sie leise, „Cherie, es ist zwar wunderbar hier, aber ich habe das Gefühl, wir sollten nach Schottland reisen!“ In diesem Moment knackte es. Alwin hatte auf die Sauerkirsche gebissen. Er zog das Stäbchen, an welchem die Kirsche gesteckt hatte, sehr langsam aus dem Mund. „Lisa…“
„Schau, wir haben die Hütte doch den ganzen Sommer über gemietet, wir könnten doch einen kleinen Abstecher nach Schottland machen und dann die zweite Hälfte der Ferien wieder hier verbringen!“
Ihr Mann sah ihr noch tiefer in die Augen. „Es ist wegen deiner Geschichte…“, meinte er langsam.
Lisa musterte den vorbeieilenden Kellner als würde er auf einem Laufsteg Pyjamas präsentieren.
„Lisa…, wieso jetzt?“
„Es ist dringend…!“
Alwin lachte auf, der Lampion über ihnen wackelte. „Aber es war doch von vornherein klar, dass du diese Geschichte nie wirst veröffentlichen können! Was willst du denn in Schottland, vielleicht über Schlossgeister recherchieren? Warum vergisst du das Ganze nicht und schreibst eine neue, eigene Geschichte. Vielleicht eine, die zufälligerweise in Hawaii beginnt?!“ Genervt blickte Alwin zu dem pendelnden Lichtkegel hoch.
Lisa holte tief Luft und richtete ihre Wirbelsäule gerade. „Weißt du, es sind diese Figuren, die ich erschaffen habe – aus dem Nirgendwo. Die brauchen mich!“
Ihr Mann stöhnte auf, dann sah er seine Frau an, als wäre sie ein Küken, das soeben aus einem Ei geschlüpft war und meinte sanft: „Natürlich, Jim Hicksley wird irgendwo in einem Kellergewölbe seinen Rausch ausschlafen und warten, bis Schneewittchen ihn wachküsst, und Elester Claw braucht deine Hände, damit er sich die Zähne putzen kann. Hast du dir überhaupt jemals überlegt, wie sich der Kapuzenmann die Zähne putzt?“ Endlich lächelte Lisa.
„Und Eulalia Birdwitch hat sich zu einer fliegenden Suffragette verwandelt und braucht Flugstunden zur Behebung ihrer Startschwierigkeiten. Aber vielleicht sollten wir Alice Schwarzer aufsuchen und sie informieren, dass das Patriarchat endlich im Untergang begriffen ist!“ Lisa schlang die Hände um ihren Mann, zerzauste seine Haare und küsste ihn lange.
Eine für den Radarschirm unsichtbare Mücke umkreiste schon seit drei Runden den Sonnenschirm, unter dem das Eis in Cocktail- und Fruchtsaftgläsern knackte. Vielleicht wartete sie auch auf den geeigneten Moment, um in einem der Riesenvögel zwischenzulanden und sich in einen anderen Kontinent fliegen zu lassen.
Als Lisa schließlich Maracella, Kat und Lerry in der großen Halle des Flughafens verabschiedete, musste sie sich einiges anhören.
„Ihr seht klasse aus... tolle Kostümierung, sehr unauffällig…“, maulte Lerry. Mit gemischten Gefühlen schielte er auf die beiden Erwachsenen. Sie wirkten wie Privatdetektive im Auftrag für den Scheich von Dubai. Alwin hatte eine Sonnenbrille von Armani auf und trug ein beiges Cordsakko von Lagerfeld, während Lisa in einem Rock von Gucci und in einer Seidenbluse von Channell steckte. Lerry hingegen steckte seine Hände tief in die Hosentaschen. Nur Maracella schien einigermaßen frohen Mutes, obwohl natürlich auch sie gerne mitgeflogen wäre. Ihre Augen strahlten Lisa an.
„Pass auf dich auf, ich verspreche dir, wir werden unser Möglichstes tun... vielleicht auch unser Unmöglichstes!“ Lisa umarmte ihre Jacke fester. Eine kleine Ewigkeit gehörte jetzt nur ihr und Maracella, eine Ewigkeit, die aber nicht länger als der Flügelschlag eines Pfauenauges dauerte.
„Na ja, dann alles Gute!“, murmelte Lerry. Er blickte zu Boden, als prüfe er, ob seine Sandalen sauber wären. Schließlich sah er lange in Lisas Augen.
Die Koffer waren schon eingecheckt, an der Sicherheitskontrolle standen kaum Passagiere. Das Flugpersonal an den Kontrollen war freundlich, es hatte heute schon genug Streitereien mit Fluggästen gehabt. Als Alwin sein Mobiltelefon mit einem Aufkleber zurückbekam, war keine Zeit mehr, sich zu wundern. Der Flug wurde zum dritten Mal aufgerufen, als die beiden Erwachsenen zum Terminal rannten.
Kapitel 4 Eine Gans ist nicht mehr ganz klar
Da Maracella seit achtundreißig Jahren nichts anderes zu tun hatte, als Südseemädchen zu sein, konnte sie schwimmen wie ein Fisch. Sie war schon weit vom Strand entfernt, die Wellen waren nicht hoch, sie legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Da berührte sie etwas am Bein. Sie atmete tief ein. Da fühlte sie wieder einen Stoß im Rücken, doch auch diesmal ließ sich das Mädchen weitertreiben, als wäre sie ein Stück Holz.
„Tscherill! Ich bin doch kitzelig!“ Barthaare berührten Maracellas Wange. Eine Robbe tauchte dicht neben Maracella auf. Tscherill war Maracellas bester Freund, sie kannte ihn seit achtunddreißig Jahren, als er ihr damals das Leben gerettet hatte.
„Help!“
Wie vom Blitz getroffen sah Maracella um sich.
„Hallo, junge Dame! I’m so tired, nicht erschrecken, wenn ich rede, ich bin eine ganz normale Gans. Nun ja, vielleicht doch nicht ganz normal, habe leider viele ganz normale Menschen auf meiner Reise erschreckt bis jetzt, ja, es tut mir so leid, so leid, Cry Baby Cry, einige werden wohl zum Arzt gehen und erzählen, sie hätten eine Gans sprechen hören, Doctor Robert, ach, es tut mir jaaa so leid, aber es geht um Leben oder Tod! Lady Madonna, ich konnte nämlich nicht mehr zurück ins Buch! Nein! Nein! Don’t Let Me Down“, sprudelte es aus der Gans hervor.
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