„Ja, in unserem Buch mussten wir wenigstens nicht ewig laufen ...“, meinte nun ein anderes Mädchen, das auch zu den Herumstehenden trat. Eulalia ließ sie nicht weiter zu Wort kommen und quiekte beinahe, „Ach was, dieses blöde Buch! Ich saß auf alle Fälle in meinem Büro in Los Angeles, ich war in Sicherheit, keine Kälte und kein Nebel!“
„Sicherheit... Sicherheit, wenn nicht einmal die hohe Wissenschaft astronomischer Pendelexperimente vor Kerzenleuchtern geschützt ist!“, schimpfte ein ehrenwert aussehender Mann und mischte sich in Höhe von Eulalias Kniekehlen ins Gespräch.
Er hatte die Erlebnisse aus jüngster Vergangenheit noch nicht vollständig verarbeitet – was aber verzeihlich war, da dieser ehrenwert aussehende Mann auf sehr viel Vergangenheit zurückblicken musste.
„Nun, jetzt stehen sie auf dem Boden, Herr Professor!“ meinte Bel Raven, die das Buch bis zu der Stelle gelesen, an der sie selbst darin vorkam. So eine Erfahrung prägt natürlich. Dadurch wusste sie mehr als alles anderen, wenn sie überhaupt etwas wusste.
„Herr Professor, Sie waren doch eine berühmte Persönlichkeit!“, fügte Penny Lo hinzu, um den kleinen Mann zu beruhigen.
„Ich WAR eine berühmte Persönlichkeit, bin aber schon längst tot!“, schimpfte Professor Draciterius unbeirrt.
„Na und. Bin es auch!“ Aus einer besonders dichten Nebelwand erhob sich ein dünnes Stimmchen. „Und das freiwillig! Hatte eine wunderschöne Zeit in meinem Haus in London, Clerkwell, Alaster Road 15!“
„So kommen wir nie weiter!“ Der Suckandpop schluckte zufrieden, während Penny Lo wütend mit dem Fuß gegen den Baumstamm stieß. „Wir müssen versuchen, zur Grenze zu kommen und...“
„Vielleicht einem Monster den Rachen verkleben? Sonst noch was?“, unterbrach ein Junge Penny Lo. Pat Swift war sicher kein Feigling, Held war er aber auch keiner.
„Wenn wir noch länger hier stehen bleiben, brauchen wir uns bald keine Gedanken mehr zu machen!“, brummte Eulalias Retter vor dem Fall.
Ein voller Mond war aufgegangen, manchmal rissen die Nebel kurz auf und es wurde hell im Wald.
„Es wird sehr kalt!“, meinte Prof. Draciterius so pathetisch, als würde er die Entdeckung der modernen Naturwissenschaften ankündigen. Dann schüttelte er seinen ehrenwerten Glatzkopf, den zwei noch ehrenwertere Kotletten schmückten, und war und blieb seiner Zeit um fünf Jahrhunderte zurück. Immerhin konnte er die anderen hin und wieder durch reformatorische Gedankenschärfe beeindrucken, wenn auch nicht gerade jetzt.
Die Gruppe der ihrem Buch Entrissenen machte sich also wieder auf den Weg. Jim Hicksley ließ alle an sich vorbeiziehen, um dann mit einem bleichgesichtigen jungen Mann namens Merlot die Nachhut des Trupps zu bilden.
So gingen sie, bis die Waldgrenze endlich hinter ihnen lag und sich Metallklinken der Morgendämmerung entgegen streckten.
„Alles Haltmachen!“, brüllte Elester Claw. Jim Hicksley stolperte fluchend zu Boden und fiel über Merlot, der sich wie ein Brett ins Gras hatte kippen lassen. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann und schlief ein paar Minuten später auf Merlot ein. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis taten sich nicht so leicht mit dem Einschlafen. Verzweifelt rannten sie zwischen den anderen hin und her, um eine Gerade zu finden. Doch die Heidelandschaft hielt nichts von Geometrie, und so begannen sich die beiden zu zanken, bis sie schließlich ebenso gerade umfielen wie Merlot.
Auch die Tiere waren müde. Selim, die einzig normale Gans, pardon, der einzig normale Gänserich, suchte sich einen Platz nahe eines Tümpels. Mäusegroßvater Mero fand mit seiner Familie im Gras Unterschlupf, ebenso Tarantilli, die Flohspinne, und Fischa, die Meerkatze.
Vierzehn Jugendliche sanken ebenfalls zu Boden, während ein an den Händen gefesselter Mann an eine Weide gebunden wurde und dort über seinen Qualen entschlummerte.
So schliefen alle ein. Wirklich alle? Nein, nicht alle. Wer kann sich vorstellen, dass Eulalia Birdwitch in freier Wildnis die Nacht verbringt? Sie war es nicht gewohnt, sich ohne ihre tägliche Fernsehserie dem kleinen Tod zu überlassen. Auf einem möglichst sauberen Stein sitzend dachte sie an ihr Appartement mit Bodenheizung in Los Angeles.
Doch sie war nicht die einzige, die wach war. Auch Bel Raven konnte keinen Schlaf finden. Das Mädchen hatte sich zwar, so gut es ging, in ihren Wollschal eingewickelt, doch Gewissensbisse lassen sich nicht einwickeln.
Bel blickte hinüber zu der Amerikanerin und seufzte. Ob sie zu ihr gehen und sich entschuldigen sollte? Doch damals hatte sie ja nicht wissen können, dass die Zusendung ihres Liedes an Warner Bros solche Konsequenzen haben würde. Komisch! Wo sie doch sonst immer alles wusste! Wozu das ganze nur? Erscheinen würde der Film sowieso frühestens erst 2017, wenn überhaupt. Immerhin war der Korken, den sie im Winter noch in den Pazifik befördert hatte schon an den Stränden von Hawaii angekommen. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie damals eingeritzt hatte. Doch wie immer, wenn sie daran dachte: es mochte ihr nicht gelingen. Nun, irgendwann würde das alles zu Ende sein. Von dieser Erkenntnis beruhigt, schlief sie schlussendlich doch ein.
Auch Eulalia überkam die ersehnte Ruhe. Selbst ohne die Befriedigung zu wissen, ob Betty Love in der Vorabendserie ‚Die schmelzenden Eisbären von Denver’ noch an Mister Lester McStubborn herangekommen war oder nicht. Sogar die Ungewissheit, ob sie selbst, Eulalia, Opfer eines Mordes geworden war und ihre jetzige Lage vielleicht eine Vorhölle sei, erschien ihr mit zunehmender Müdigkeit belanglos.
Penny Lo erwachte als erste von allen. Sie räkelte sich und meinte alle Knochen zu spüren. Doch was sie dann sah, schmerzte fast noch mehr. Unweit von ihr, unter einem stacheligen Gestrüpp, lagen zwei ehrenwerte Gestalten aneinandergeklammert auf dem Boden als wollten sie sich gegenseitig erwürgen. Etwas weiter, den Abhang hinunter Richtung Tümpel, schnarchte ein älterer, mit Fetzen bekleideter Mann. Unter ihm lag ein bleicher jüngerer Mann, der kaum zu atmen schien. Seine Augen waren mit einer Binde bedeckt. Penny Lo schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick in die Weite schweifen. Sie befanden sich auf einer Hochebene, vor ihnen Gras und Büsche, die in Nebeln verschwanden, ein Tümpel war gerade noch zu erkennen. Dahinter mochten sich Wiesen und Wälder befinden, in der Ferne vielleicht ein Gebirgszug. Sie sog die frische Luft ein.
Dann zog der Suckandpop ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das unförmige Etwas hing schlapp über dem tiefen Ast einer Birke. Es hieß übrigens Sucky. Penny Lo erinnerte sich an eine Schulstunde letzten Jahres, als dieses Unding besprochen worden war. Angeblich änderte es ständig seine Form und sah im wohlgenährten Zustand aus wie ein Riesenschnuller. Es ernährte sich ausschließlich von Frequenzen, eine Verstopfung hatte lautstarke Explosionen und den Gestank nach Schimpfwörtern zur Folge. Seit dieser Schulstunde wusste Penny Lo, dass Schimpfwörter stinken können.
Suckys Schlafplatz lag etwas abseits von den anderen. Nur eine etwas festere, blondhaarige Frau Mitte dreißig hatte den Fehler begangen, sich unter die Birke zu legen. Penny Los Stimmung erhellte sich augenblicklich, als sie Suckys triefenden Speichel beobachtete. Pat schien dasselbe zu beobachten und bemerkte nur: „Na, wenn die aufwacht, hat der Suckandpop sicher ein fulminantes Frühstück!“
„… Waschmaschine, weiß, schwarz und... neinnnnn!“, murmelte der an den Baum gebundene Schläfer. Der Suckandpop wurde etwas dicker, die Schnullerspitze streckte sich. Schleim tröpfelte auf Eulalias Bluse, sie lächelte im Schlaf und drehte sich auf den Bauch.
Als der Gefesselte die Augen aufmachte, sah er aus, als wäre er gerade einer Waschmaschine im Schleudergang entstiegen.
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