„Das ist ja echt ’n Hammer, Mann“, meinte Matjes nachdenklich, während er nach der großen Cola-Flasche griff, in der nicht nur Cola war. Er hatte hochprozentigen Rum besorgt und direkt in die Flasche gemischt, nachdem er ihr einen großen Schluck entnommen hatte, „… Los … Lies’ weiter“, während er die Flasche weiterreichte.
Georgie schaute wieder auf die Seite, suchte die Zeile und fuhr fort: „War das erst einmal erreicht, wollte man endlich die Sowjetunion vernichten. In Deutschland entstand ein irrsinniges Chaos, was bald in todesangstähnliche Einschüchterung wechselte. Der schnell wachsende Terror von Sturmabteilungen und eilig aufgestellten Schutzstaffeln, kurz SA und SS genannt, nahm beinahe über Nacht zu. Am Montag, dem 20. März wurde auf Anordnung von Heinrich Himmler das erste KZ-Lager in Dachau errichtet. Allein vom Ermessen Himmlers und seines Sicherheitsapparats hing es ab, wer in das KZ-Lager deportiert wurde. Zeitweise „politische Schutzhaft“ hieß es für politisch verdächtige Personen, um das Aufbauwerk der Hitlerregierung nicht zu gefährden.
Für die rechtliche Grundlage wurde schnell gesorgt: Eine Notverordnung wurde ausgerufen, mit der man das Grundrecht der persönlichen Freiheit aufhob. Nur knapp einen Monat später, am 23. März 1933 wurde im Reichstag das sogenannte Ermächtigungsgesetz angenommen, obwohl die Sozialdemokraten dagegen gestimmt hatten. Dieser Schachzug verschaffte Hitler und seiner verschworenen Clique letztendlich die erstrebten diktatorischen Vollmachten. Ein großer Schritt in Richtung Diktatur war getan. Kurz darauf begannen die Vollmachten Wirkung zu zeigen. In Buchläden wurden „Schwarze Listen“ mit den Namen und Titeln „undeutscher“ Schriftsteller veröffentlicht und nur einen Monat später, am 10. Mai 1933 fand auf Veranlassung von Dr. Joseph Goebbels in Berlin die große Bücherverbrennung statt. Was aber schlussendlich mit zur großen Ohnmacht im Land beitrug, geschah nur einen Monat später, um genau zu sein am 22. Juni 1933, und zwar wurden beginnend mit der SPD alle anderen Parteien verboten. In teuflischer Geschwindigkeit wurden weitere KZ-Lager aus dem Boden gestampft, die sich im Deutschen Reich wie hässliche Leberflecke ausbreiteten. Nur wenige Tage später wurde die NSDAP zur deutschen „Staatspartei“. Schnell war die SA zu einer ernstzunehmenden Armee mutiert, der die Freiwilligen in Scharen zuliefen. Ihr Stabschef Ernst Röhm trug sich längst mit der Vision, zweitmächtigster Mann im Reich zu werden, indem er aus der SA eine Volksmiliz machen wollte. Die Volksmiliz sollte ausschließlich die Landesverteidigung übernehmen. Das war ein viel zu hochgesetztes Ziel, was er schon bald feststellen musste, denn Hitler hatte bereits ganz andere Entscheidungen getroffen. Gegenüber der Reichswehr war er bereits andere Verpflichtungen eingegangen. Im weitesten Sinne fungierte die Reichswehr als Ausbildungsstätte für SS-Führer und war somit dem damaligen Präsidenten des deutschen Reichstags, Hermann Göring, sowie Himmlers SS unterstellt. Am 30. Juni1934 wurden auf Hitlers Befehl hin mehrere SA-Führer, darunter auch Erich Röhm und viele Kritiker aus den eigenen Reihen, liquidiert. Um die Morde vor der Öffentlichkeit zu vertuschen, verbreitete Propagandachef Dr. Goebbels den gescheiterten Versuch eines Putsches und somit die Verhinderung eines drohenden Bürgerkrieges, was zusätzlich noch mit einem eilig verabschiedeten Reichsgesetz unterstrichen wurde. Es war das Gesetz der „Staatsnotwehr“ …“
Für einen Augenblick legte Georgie das Buch zur Seite und streckte den Arm aus, um ebenfalls aus der Flasche zu trinken.
Er nahm einen kräftigen Schluck, verzog etwas die Mundwinkel, da der Rum doch sehr durchschmeckte, schüttelte sich kurz und las weiter: „Wiederum einen Monat später wurde ein weiteres Gesetz erlassen, das vorsah, künftig die Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers zusammenzulegen – ein weiterer strategischer Schachzug und ab dem 2. August 1934 wurde die Reichswehr auf Hitler, den neuen Oberbefehlshaber, den Führer und den Reichskanzler in einer Person, vereidigt. Von nun an brauchte Hitler nicht mehr zu zögern. Er konnte agieren, mehr noch: Er konnte provozieren. Bereits am 14. Oktober 1934 trat Deutschland aus der Abrüstungskonferenz aus und nur fünf Tage später auch aus dem Völkerbund.
Entgegen seiner Erwartung musste er sich wundern, dass die Weltöffentlichkeit nur geringe Notiz davon nahm.
Nun vergingen einige Jahre, in denen heimlich aufgerüstet und nach außen Friedensverhandlungen und Vermittlungsgespräche mit den angrenzenden Staaten geführt wurden. Mit aller Macht wollte sich Hitler Polen zu Eigen machen. Deshalb begann eine Reihe von deutsch-polnischen Vertragsverhandlungen, die aber ausschließlich der Außenminister Joachim von Ribbentrop führte. Immer ging es darum, die Freie Stadt Danzig, die Hitler um jeden Preis in das Reich eingegliedert sehen wollte, zu bekommen und es ging um eine Autobahn sowie um eine Eisenbahnlinie, die dorthin gelegt werden sollte. Das sollte der „Polnische Korridor“ sein. Und eine weitere Lösung musste mit Polen verhandelt werden: die Frage nach dem Verbleib der aus Deutschland ausgewiesenen „Ostjuden“. Bislang weigerte sich Warschau, die Juden aufzunehmen, doch als sich die Zahl der Ausgewiesenen, wobei es sich nicht nur um Juden handelte, immer größer wurde, gab Polen schließlich nach. Doch die Lage spitzte sich dramatisch zu, als am 7. November 1938 der junge Herschel Grynszpan die deutsche Botschaft in Paris betrat und den Botschaftsrat Ernst vom Path erschoss. Im Grunde war dies eine Verzweiflungstat, weil seine ganze Familie aus Deutschland ausgewiesen worden war und sie somit buchstäblich alles verloren hatten.
Dr. Joseph Goebbels aber nahm diese Tat zum Anlass für eine gerechtfertigte Gegenaktion und kündigte sie wie folgt an: die spontane Reaktion des deutschen Volkes. Zwei Tage lang brannten im Reich sämtliche jüdische Synagogen. Auf brutalste Weise wurden jüdische Geschäfte geplündert, Wohnungen verwüstet. In roter Schrift hatte sich von nun an die Reichskristallnacht in die Geschichtsbücher eingetragen. Am Montag, dem 30. Januar 1939 stand Hitler mit geschwellter Brust im Reichstag und kündigte lauthals die Vernichtung der jüdische Rasse in Europa an, natürlich im Falle eines Krieges.“
Georgie ließ das Buch auf seine Knie sinken und sah besonnen in die Runde, wie ein geübter Leser es tat, er erwartete keinen Kommentar.
Er sah die Jungs prüfend an. Dann nickte er, hob das Buch wieder an und las weiter: „Unterdessen wurde in geheimen, hermetisch abgeschirmten Fabriken mit Hochdruck und auch unter Tage aufgerüstet. In entlegenen Werfthallen und ummauerten Werksgeländen wurde emsig in Schichten rund um die Uhr gearbeitet, was das bedingungslose Vertrauen an die NS-Regierung zur Pflicht machte, aber das fiel den Familien überhaupt nicht schwer, da selbst Mütter wieder Arbeit hatten, während Väter verantwortungsvolle Aufgaben zugeteilt bekamen.“ Georgie sah noch einmal auf und hob eine Augenbraue.
„Auf Deutschlands Küchentische kam wieder gesundes Essen und so manche Familie konnte sich zum ersten Mal, nach so vielen Jahren der Entmutigung, einen Urlaub an der Ostsee leisten. Wer hätte da an Krieg gedacht?“
„Fragst du uns das jetzt etwa?“, feixte Ulli, obwohl ihn die Geschichte längst gepackt hatte. Und da Georgie das erkannte, reagierte er gar nicht erst auf die Frage, sondern fuhr fort: „Doch jedem sollte noch früh genug die nackte Wahrheit ins Gesicht springen. Hierfür brauchte es keine Goebbelsharfen und keine tönende Wochenschau.
Nun wurde jedem klar, warum die breiten Autobahnen gebaut, die unzähligen Fabriken umfunktioniert und die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt wurde. Zu einem besseren Zeitpunkt konnte das alles gar nicht geschehen als gerade, wo das Land sein vereintes Selbstvertrauen zurückgewonnen hatte, man sich in die Zeit des Aufschwungs eingebracht hatte und die allgemeine Entspannung genoss. Zu dieser Zeit wäre niemandem der große Krieg in den Sinn gekommen und erst recht nicht den Siegermächten des Ersten Weltkrieges.
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