Derweil brüstete sich Holmi mit seiner Technik im Umgang mit den Messingscheiben.
Georgie erinnerte sich plötzlich an ein anderes Erlebnis.
Er tauchte ab in die Vergangenheit … zu einem Tag, den er nicht nur mit Kessie erlebte – es war früher Nachmittag, als sie sich durch den geheimen Durchgang zwängten und zur alten Konservenfabrik rannten … Nur diesmal wirkte alles anders. Es schien zwar dasselbe Gebäude, aber irgendwie war alles wie ausgetauscht.
Die Schilder waren nicht da … nur ein … Nein, das war kein Schild! Auf dem rostroten Mauerwerk der Fabrikhalle leuchteten die protzigen Buchstaben: HALLE 4.
Gehetzt schossen ihre Blicke umher, während sie gebückt weiterrannten – das Gelände war ihnen nicht fremd, doch alles wirkte irgendwie neuer, grauer, kälter. Rechterhand registrierten sie zwei altmodische Limousinen, die Georgie aus alten Spielfilmen kannte. Doch das konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
Sie rannten vorbei an dem ersten Löschwasserbassin, das ebenfalls verändert schien. Es war gepflegt, keine Spur von Unkraut. Kaum Gestrüpp und die ausladenden Bäume auf der Böschung gab es nicht.
Sie sahen sich kurz an, blieben aber nicht stehen. Sie rannten weiter.
Bald darauf erreichten sie den schmalen Durchgang zwischen den großen Hallen, der sie direkt zu dem Gebäude führte, wo Georgie mit seinen Eltern früher wohnte.
Und jetzt fiel es ihm wieder ein … Natürlich! Es passierte in diesem Gebäude … In meinem Kinderzimmer wurde sie vergewaltigt!
Durch das Fenster auf der rückwärtigen Seite waren sie eingestiegen, durch das sich auch der Kittelmann Eintritt verschaffte. Bei den Gedanken an den Kittelmann fröstelte es Georgie. Tatsächlich hatte er als kleiner Junge Angst vor diesem humpelnden, alten Säufer. Das Fenster gehörte zu seiner Werkstatt. Nachts stieg der Kittelmann sehr oft auf diesem Weg ein, wenn er mal wieder zu viel getrunken hatte, dort seinen Rausch ausschlief, um am nächsten Morgen nicht den Arbeitsbeginn zu verpassen.
So wie immer war die Fensterklappe nur angelehnt, sodass man den Riegel von innen hochdrücken musste – so einfach war das Fenster zu öffnen. Es bestand aus trübem Milchglas.
Erst beim Einsteigen bemerkte Georgie, dass der düstere Kellerraum nicht die Werkstatt, sondern eine Art Abstellkammer war. Sperrige, aufeinander gestapelte Tische, unzählige Stühle, kleinere Aktenschränke, Regalbretter und hölzerne Kleiderständer erkannte er, doch die unglaublichste Entdeckung schlug ihnen an der Tür zum Korridor entgegen. Es war ein schief hängender Kalender. Was sie lasen, explodierte lautlos in ihren Köpfen.
Das Kalenderblatt zeigte den Monat März, doch das Jahr haute sie um – 1944!
Schaudernd kreuzten sich ihre Blicke. Sie schluckten trocken, ohne dabei die Münder zu schließen. Wieder und wieder sahen sie auf den schiefhängenden Kalender, starrten auf die großen, fettgedruckten Zahlen – eins … neun … vier … vier!
Instinktiv griff Georgie nach dem Türgriff. Er drückte ihn nieder.
Wie von selbst schwang die Tür auf, als ob sie nur angelehnt war.
Ein hohles Krächzen begleitete sie nach draußen.
„Hoh!“, stieß Kessie aus, während er in das schwarze Nichts starrte.
Was wohl schoss Kessie in diesem Moment durch den Kopf, dachte Georgie und verschränkte die Arme im Nacken. Noch immer tief im Sessel versunken, war sein Blick auf Kessie gerichtet, der gerade zu Boden sah. Eher teilnahmslos ließ er Ullis Worte an sich vorbeiziehen, der in unverkennbarer Manier seine Erlebnisse, die er beim Bogenschießen sammeln konnte, veranschaulichte.
Über Jahre hinweg war das Werksgelände ihr Reich. An den Wochenenden gaben sie dort den Ton an … und dann das! Nie haben sie sich wirklich darüber ausgesprochen. Die Dinge passierten einfach. Als ihn wenig später der stockfinstere Flur verschluckte, er sich dicht an der rechten Wand entlang tastete, hatte Georgie nicht mehr auf Kessie geachtet. Natürlich vermutete er ihn dicht hinter sich. Jahrzehnte später standen an dieser Wand die lange Reihe der Spinde und hier war auch die Tür zum Wohnzimmer.
Beides war jetzt nicht da. Zuerst fiel es ihm nicht auf, weil er mit der totalen Dunkelheit kämpfte, dann vernahm er lautes Gepolter, weiter den Flur runter die zerreißenden Schreie eines weiblichen Wesens. Von überall her schienen sie zu kommen, so schrill, dass sich seine Trommelfelle verkrampften.
Zutiefst erschrocken drückte er sich flach an die Wand, griff reflexartig hinter sich … und da erst bemerkte er, dass Kessie nicht hinter ihm war. Hinter ihm war es stockfinster, nur vor ihm flackerte irgendwo ein schwacher Lichtkegel. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass sie seit ihrem Eindringen ins Werk keine Menschenseele zu Gesicht bekommen hatten, nur diese alten Limousinen. War hier gerade Wochenende oder irgendein Feiertag? Draußen war es noch nicht einmal dunkel. Sie hatten einen sonnigen Nachmittag durchquert.
„Hilfe! Nein …. Hilfe! Nicht!“ Unmissverständlich war das die Stimme eines Mädchens und dieses Mädchen hatte Todesangst.
Die Dunkelheit wollte Georgie verschlingen. Wild riss er den Kopf herum, tastete hinter sich die Mauer ab: „Kessie … hee“, presste er durch die Mundwinkel.
In diesem Augenblick drehte er den Kopf erneut, als würde eine fremde Macht ihn drehen. Zeitlupengleich setzte er sich in Bewegung, näherte sich einer Tür im Hauptflur. Die Tür auf der linken Seite war ihm nur allzu gut bekannt – das ist doch mein Kinderzimmer, verdammt!
Von dort kam auch der schwache Lichtschein. In Brusthöhe war in der Tür eine Glasscheibe eingefasst … Auch das wusste er nur zu gut.
Das Mädchen schrie und schrie. Die fremde Macht zog ihn dicht an die Tür heran, um ihn durch die Glasscheibe sehen zu lassen – ja, genau ich sollte Zeuge werden!
Tottäuschung
Alles über den 31. August 1939
und eine Zeit davor und danach
Kapitel 8
„Durch das feige Täuschungsmanöver einer Handvoll deutscher Faschisten, von SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks angeführt, wurde an einem herrlichen Spätsommertag der Zweite Weltkrieg ausgelöst. Am 31. August 1939“, las Georgie mit schulmännischer Stimme vor. Er hatte ein Buch über den Zweiten Weltkrieg mitgebracht, da er die Jungs auf das bevorstehende Abenteuer einstimmen wollte.
„Willst du jetzt tatsächlich ’ne langweilige Lesestunde abhalten?“, quälte sich Ulli auf einer der Matratzen.
„Das ist aber wichtig“, entgegnete Georgie knapp, „und ich erkläre Euch auch später warum.“
„Psssssssst!“, zischte Matjes, „ich will das hören … also … bitte.“
Georgie wartete einige Sekunden, bis er fortfuhr: „Es war später Nachmittag, als ein kleiner Trupp in polnischen Uniformen den Radiosender in Gleiwitz überfiel, einen Steinwurf von der polnischen Grenze entfernt. Der Befehl zu diesem Übergriff kam vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler und vom Chef der Sicherheitspolizei sowie des Sicherheitsdienst, von Reinhard Heydrich höchstpersönlich. Es sollte die perfekte Inszenierung darstellen. Seit dem 10. August 1939 hielt sich der kleine Trupp in unmittelbarer Nähe des Senders versteckt …“
„Das wird aber jetzt nich’ so ’n langweiliger Scheiß wie in der Schule, oder?“, stöhnte Ulli.
Georgie reagierte nicht darauf: „Gehorsam warteten sie auf den Befehl zum Losschlagen.“ Flüchtig sah er zu Ulli hinüber, während er den Zeigefinger auf die Zeile hielt, mit der er fortfahren würde: „Der Tag des Angriffs auf Polen stand fest: der 26. August 1939. Auch ein Name für das Unternehmen war schnell gefunden: der Fall Weiß. Für die Auslandspresse und die deutsche Propaganda musste lediglich noch der tatsächliche Beweis für polnische Übergriffe geschaffen werden, was zu dieser Zeit äußerst schwierig war. Offiziell steckten beide Länder in hochbrisanten Verhandlungen mit England, Frankreich und der Sowjetunion, wobei sich Deutschland schon mehrmals sehr deutlich über sein friedliches Verhalten gegenüber Polen geäußert hatte.
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