Am Tag vor dem 26. August herrschte in Berlin eine zum Zerbersten unerträgliche Spannung, da Hitler den genauen Tag des Angriffs festgelegt hatte und auf gar keinen Fall von diesem Zeitpunkt abkommen wollte. Bis dato hatte er nicht erreicht, Polen von England und von Frankreich zu isolieren. Er wollte seinen Krieg mit dem einzigen Ziel: „die Vernichtung Polens und die Beseitigung aller lebendigen Kraft.“ Ein rascher Blick zu Holmi verriet Georgie, wie er und auch Tommi an seinen Lippen klebten. „Als einzige Bedenken führte er lediglich an: „ich habe nur Angst, dass mir noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt!“ Um 18:30 ließ er dann aber doch die Vorbereitungen für den Angriff stoppen, nachdem er erfahren musste, dass Mussolini noch nicht in den Krieg eintreten konnte. Zu dem Zeitpunkt schien es Hitler zu riskant. Erst wollte er erreichen, dass England sich nicht einmischte, wenn er in Polen einmarschierte.“
„Aahh, jetzt baut sich Spannung auf … Wird ja auch Zeit, Mann“, Ulli hasste so etwas eigentlich, wenngleich er natürlich registrierte, wie gespannt Tommi, Holmi und Matjes zuhörten.
Georgie ließ sich nicht ablenken: „Mit auffälliger Brutalität drang der besagte Trupp in den Senderaum ein, überwältigte die Mitarbeiter und schickte einen schier provozierenden, polnischen Aufruf durch den Äther. Ein polnisch sprechender Deutscher hielt über das Radio eine Rede. Damit die Aktion noch an Glaubhaftigkeit, Überzeugung und Niederträchtigkeit gewann, wurden die Geiseln kurzerhand erschossen, wie es kaltblütiger nicht möglich war. Zu dieser Tageszeit waren die meisten Volksempfänger erwartungsgemäß eingeschaltet. Der Überfall war von langer Hand geplant. Sie hatten einen zuvor getöteten KZ-Häftling ebenfalls in eine polnische Uniform gesteckt. Als Beweis ließen sie den Toten im Sender zurück. Man sollte glauben, dass polnische Soldaten die Grenze zu Deutschland überquert hatten. Schon im Morgengrauen des folgenden Tages, es war der 1. September, marschierten deutsche Truppen über die Ostgrenze in Polen ein. Daraufhin erklärte England und Frankreich zwei Tage später den Deutschen den Krieg, doch das nur, weil beide Länder nicht sofort den vereinbarten Entlastungsangriff vom Westen her angegangen waren. Damit kamen sie offiziell ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen nicht nach, was wiederum ganz im Sinne der deutschen Führung war, die wohlweislich derartige Reaktionen in ihre lang vorbereiteten Kriegspläne einkalkuliert hatte.
„Mann, das wusste ich gar nicht“, flüsterte Holmi ergriffen und lehnte sich zurück, „kannst mal sehen … diese verschissenen Schweine.“
„Offiziell war der Krieg demnach von zwei Seiten erklärt und die Nachricht breitete sich wie ein Lauffeuer aus, in die zusätzlich noch Brandbeschleuniger gekippt wurde. Längst hatte das Zeitalter des Rundfunks Einzug in die deutsche Stube gehalten. Der Volksempfänger war eine Pflichtanschaffung und wurde von der Regierung skrupellos ausgenutzt, um die revolutionierenden Parteien mit gezielten Propagandaparolen zu beeinflussen.
Daher hieß dieser kleine Holzkasten so treffend: Goebbelsharfe …“
„Was Besseres ist denen nich’ eingefallen?“, warf Ulli witzelnd dazwischen, „… aber passt ja.“
Sofort blitzten zwei Augenpaare auf, während Georgie gar nicht erst reagierte: „In den Schulen erfuhren die Kinder nur Gutes über den herrschenden Hitlerfaschismus. Fortan bestimmten klare Verhaltensmaßregeln den öden Lernstoff und lockerten ihn gezielt auf.“
„Ist ja heute nich’ anders, oder?“ Noch während er den Satz aussprach, warf Ulli sich auf die Matratze zurück und winkte entschuldigend ab, dass er jetzt damit aufhören würde.
„Uniformen wurden eingeführt, die die jungen „Pimpfe“ mit Stolz trugen. Ihnen wurde früh die nötige Loyalität eingetrichtert. Und somit avancierte die Hitlerjugend rasend schnell zu einem Statussymbol. So schnell wie möglich dazuzugehören, war angestrebtes Ziel.
Doch die eigentliche „Tottäuschung“ begann viel früher.
Eigentlich wurde sie durch den sogenannten „Schwarzen Freitag“ ausgelöst und das war nicht etwa ein dämonischer Freitag der 13., sondern der katastrophale Börsensturz vom 24. Oktober.
Ein Donnerstag und der folgenschwere Freitag, der 25. Oktober 1929 bescherten in den USA der ewig blühenden Konjunktur das ohnmächtige Ende. Das war also fast auf den Monat genau zehn Jahre früher. Unaufhaltsam breitete sich eine Weltwirtschaftskrise aus, die die schwer verschuldeten Industrienationen Europas und ganz besonders Deutschland hart trafen. Bald gab es über sechs Millionen Arbeitslose im Land. Für Hitlers Nationalsozialisten war das der saftige Nährboden, auf den er gewartet hatte, um ihre demagogischen Parolen herauszuschreien und der resignierten Bevölkerung schnelle, wirtschaftliche Besserung zu versprechen.
Ein Heer von Unzufriedenen stürmte Hitler in Scharen zu, viele ehemalige Frontsoldaten folgten seinem Aufruf, ebenso Abertausende nationalistische Kleinbürger, die längst den Glauben an die Reichsregierung verloren hatten. Immer wieder hielt Hitler große Massenveranstaltungen ab, auf denen er endlich die Faszination und die Auswirkung von Macht genoss. Hier ließ er sich feiern. Hier wuchs er über sich hinaus. Schon 1932 bildeten Hitlers Nationalsozialisten die stärkste Fraktion im deutschen Reichstag, machten sich vorübergehend die Kommunisten zum Verbündeten und verhinderten somit, dass im Parlament weiterhin konstruktiv entschieden wurde. Schlussendlich folgte am 30. Januar 1933 die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Der Startschuss für die nicht mehr aufzuhaltende Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war gefallen. Hier genau verselbstständigte sich die „Tottäuschung“. Mit der anfangs noch geschickten Vorgehensweise des in Wirklichkeit hochgradig persönlichkeitsgespaltenen Fanatikers wurden die entmutigten Bürger geblendet. Tagtäglich tönte die Stimme des „Führers“ (Sei still! Der Führer spricht!) oder die seiner engsten Gefolgsleute aus den hölzernen Goebbelsharfen. Der Namensgeber Dr. Joseph Goebbels war ein hochgradig begabter Redner mit der geradezu fesselnden Stimme eines Bayreuther Theaterschauspielers. Er war Hitlers Chefpropagandist. Und er war ebenfalls beladen mit schwersten Neurosen. Aber durch diesen Status erlebte sein all die Jahre geschundenes Selbstwertgefühl zu der Zeit nicht mehr kontrollierbare Höhenflüge. Und das steckte an. Das Volk sah diesen schmächtigen, unterernährten, kleinen „Klumpfuß“ ja niemals wirklich aus der Nähe. Man hörte ihn nur.
Er war die globale Verkörperung des kleinen Mannes und er zeigte den Deutschen, dass man deshalb noch lange nicht schwach zu sein hatte. Die Propagandastrategie für den entmutigten Deutschen ging also tatsächlich auf. Und schließlich schloss sich der enge Kreis um Hitler mit dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und dem späteren Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring. Eine verschworene Clique von ewig Verspotteten, ewig Missachteten, ewig Belächelten und gefährlich Kranken begann allmählich, Gott zu spielen. Systematisch wurden die Deutschen und zunächst die Reichswehrführung auf den geplanten Raubkrieg vorbereitet. Am 3. Februar 1933 legte Hitler seine ausgearbeiteten Pläne vor, die ausdrücklich besagten, dass er einen endgültigen Strich unter die fortwährende Sozialisierung der Wirtschaft durch die Diktatur des Proletariats, der Arbeiter und der ohne fremde Hilfe arbeitenden Bauern forderte, was die Ausrottung des Bolschewismus bedeutete. Außerdem kündigte er den Kampf gegen den Versailler Vertrag an, der besagte, dass Deutschland lediglich eine Reichswehr von 100.000 Berufssoldaten ohne Panzer, schwere Artillerie oder Flugzeuge mit einer Marine von 15.000 Mann halten durfte. Laut Friedensvertrag war der Aufbau einer Luftwaffe untersagt. Darüber hinaus forderte Hitler die strategische Eroberung von „Lebensraum“. Zugleich wurde im Volk die ideologische Bereitschaft geschürt, bedingungslos in den totalen Aggressionskrieg zu folgen. Natürlich gab es ein angestrebtes Ziel, und zwar die absolute Vorherrschaft in Europa. War das …“, Georgie schaute auf, weil sich Matjes aufrichtete. Sofort erhob sich auch Tommi.
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