Franz und Simon lagen weit vorn. Aber das war erwartet worden: Simon, der Sportler, und Franz, der generell einen Faible für jede Art von Barspielen, wie Dart, Billard oder Bowling, hatte.
Ben jedoch war ihnen dicht auf den Fersen und er glaubte, zwischendurch, die anderen wollten ihn zum Geburtstag gut aussehen lassen. Aber seine Punkte waren wirklich weit ab von dem, was er sonst schaffte. Am Ende des ersten Spiels war es so knapp, dass der letzte Wurf entschied. Ben gelang in der Situation tatsächlich ein Strike und alle sprangen jubelnd auf. Alle wuselten durcheinander und gratulierten Ben zum Sieg.
Simon warf eine Hand voll Konfetti aus einer herumstehenden Dose über die Feiernden. Er blieb einen Moment stehen und schaute sich die Szenerie an. Er genoss die ausgelassene, sorglose Stimmung, bevor er zu seinen Freunden sprang und Ben anerkennend auf den Rücken klopfte.
Sie spielten ein paar weitere Runden, die dann wie erwartet verteilt an Simon oder Franz gingen. Die anderen vier teilten sich fair in abwechselnden Reihenfolgen die weiteren Plätze.
Zwischen den Spielen saßen sie ausgelassen lachend und tratschend beisammen. Sie genossen den schönen, gemeinsamen Tag.
Sie feierten bis in den Abend, wo sich die Kinder wieder zu den Eltern in den Barbereich gesellten und gemeinsam noch einen Snack bestellten.
Dann musste aber irgendwann auch ein solch schöner Tag mal zu Ende gehen. Marie sagte: „Ben, vielen Dank. Der Abend war großartig. Ich wünsche dir noch einen schönen restlichen Geburtstagsabend.“ Lukas ergänzte artig: „Ach ja, Herr und Frau Lindner. Auch Ihnen vielen Dank für das Organisieren.“
„Ja es war echt top. Super Sache. Da will man fast gar nicht nach Hause“, sagte Simon. „Aber hilft ja nichts. Dann macht’s mal gut. Montag ist wieder Schule.“
„Ach erinnere uns doch nicht daran Mann“, beschwerte sich Tamara.
Ben fuhr wieder mit seinen Eltern und den Winters heim. Auf der Fahrt waren alle auffällig ruhig, da sie sehr müde waren. Ben hing währenddessen seinen Erinnerungen an den Abend nach. Vor seinem geistigen Auge tanzte er mit seinen Freunden weiter jubelnd durcheinander.
– 5 –
Daheim wurde nicht mehr lange gefackelt. Alle wollten nur noch ins Bad, um anschließend ins Bett zu fallen. „Komm Ben, geh du als Erster. Wir halten noch so lange aus“, sagte seine Mutter. Als er endlich in sein Zimmer kam, schlurfte er dahin und gähnte geräuschvoll.
Er schaltete das Licht an und betrachtete sich im Spiegel. „Happy birthday Ben“, sagte er flüsternd mit einem Lächeln zu seinem Spiegelbild. In der folgenden Stille hörte es sich an, als würde er einen Nachhall seines Grußes an sich selbst hören. „Happy Birthday Ben.“ Er schaute sich um und schüttelte verwirrt den Kopf.
Als er seinen Schlafanzug suchte, war es zu dunkel, um ihn zu finden. „Ich habe doch das Licht angemacht. Ist die Glühbirne kaputt?“, fragte er sich und schaltete geistesabwesend die kleine Lampe neben dem Bett an. Da fand er den Schlafanzug und legte ihn unten ans Fußende des Betts. Im Augenwinkel bewegte sich etwas im Spiegel. Er schaute hin, aber erneut war es dunkler geworden. Er schaute, wie schon morgens, wieder auf das Aquarium. Aber das war rechts in der Ecke des Spiegels zu sehen. Die Bewegung war jedoch eindeutig links gewesen.
Er ging dichter an den Spiegel. Vereinzelte Schatten, die er im Spiegel auf dem Bett sah, schienen sich zu bewegen. „Halluziniere ich schon vor lauter Müdigkeit? Ich sollte echt rasch ins Bett.“
Er rieb sich die Augen fest mit den Handballen. Als er die Augen langsam wieder öffnete, stand plötzlich ein physischer Schatten grob in Menschenform hinter ihm im Spiegel. „Huch …“, entfleuchte es ihm erschrocken. Doch zu mehr kam er nicht. Der Schatten schubste ihn gegen den Spiegel. Er schloss reflexartig die Augen und erwartete den Aufprall mit dem Gesicht, da er die Hände nicht schnell genug hochbekam.
Doch er fiel weiter, als er dachte. Und kippte im freien Fall auf den Boden zu. Dabei reichte sein Reflex glücklicherweise aus und er konnte sich mit den Händen schützend abfedern. Der Aufprall auf dem harten Boden war trotzdem schmerzhaft. „Uff …“, stöhnte Ben.
Der Schreck hatte ihn mittlerweile wieder wacher gemacht. Er öffnete langsam die Augen und realisierte auf den ersten Blick, dass sein Geburtstagswunsch in Erfüllung gegangen war. Der Wunsch, den er morgens im Kopf gehabt und die Kerzen ausgeblasen hatte, was ihm wie eine Ewigkeit her erschien. Er erblickte den Raum in Paradell, den er mit seinen Freunden vor einigen Tagen zusammen gesehen hatte und vor ihm stand Angrowin. Heute war sie jedoch allein im Raum.
„Ben. Geht es dir gut? Hast du dich verletzt? Es tut mir leid. Ich musste dich in den Spiegel schubsen. Nur so konnte ich dir zeigen, wie du durch die Schattenwand kommst“, sagte sie. Sie hatte nicht mehr diese unendliche Ruhe und Gleichgültigkeit in ihrem Verhalten, sondern wirkte eher nervös. Es war dennoch kein Vergleich mit menschlicher Emotion in einer solchen Lage.
„Oh, alles gut. Mir fehlt nichts“, stammelte Ben und war von ihrer Schönheit abermals überwältigt. Die filigranen Linien auf ihrer Haut pulsierten schwach in einem rötlicheren Farbton als beim letzten Mal. Sie sah ihn neugierig mit ihren großen Augen an und schwenkte sachte den Kopf, was die langen purpurnen Haare wehen ließ.
„Dann komm. Ich habe dir einiges zu erzählen, aber wir haben nicht viel Zeit. Gangelon sagte, dass sie nur für eine Stunde unterwegs sein werden.“ Damit reichte sie ihm die Hand und er ergriff ihre langen, dünnen, feingliedrigen Finger. Ein starkes Kribbeln ging durch seinen ganzen Körper, als er sie berührte.
Als er stand, schaute er sich fasziniert im Raum um und bestaunte erneut die verzierten, leuchtenden, unebenen Wände. Es gab kaum Einrichtung. Nur ein Stuhl stand vor der einzigen glatten, unbeleuchteten Wand, als wäre er aus dem Boden gewachsen. Ben ging zu der Wand und erkannte erst in dem Moment, dass es eine Art riesiger Spiegel war. Er war aber bei Weitem nicht so klar und deutlich wie der in seinem Zimmer, sondern wie durch einen Nebelschleier oder eben durch Schatten verhangen. Aus diesem Grund haben die Freunde ihn beim letzten Mal nicht als solchen erkannt.
„Ja, die Schattenwand ist momentan inaktiv“, hörte Ben von hinter sich in der melodischen Stimme, die wie zwei Stimmen gleichzeitig klang. „Komm, wir setzen uns hier hin“, sagte sie.
„Aber da ist nur ein Stuhl“, sagte Ben. „Nein, nicht dahin. Komm hier rüber.“ Als er sich zu ihr umdrehte, hielt sie eine Hand einladend zu ihm hin und schwenkte die andere langsam an der Wand vorbei, an der sie stand, und bewegte dabei bedächtig die Finger in Wellenbewegungen. Aus der Wand wuchsen zwei weitere Stühle und versenkten ihre Füße im Boden.
Ben riss erstaunt die Augen auf und ging mit offenem Mund zu ihr rüber: „Whoa. Wahnsinn …“
Er setzte sich auf den ihm gewiesenen Stuhl und sie raffte ihr langes weißes Kleid zusammen um sich auf den anderen zu setzen. Nachdenklich streifte sie sich über das lange Kinn und kräuselte die hohe Stirn. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Da ich nicht weiß, ob du mich vorhin durch die Schattenwand hören konntest. Happy Birthday Ben.“
Sie lächelte ihn an und fuhr fort. „Ich bin Angrowin Forgana und du bist hier in Paradell. Meiner Heimat. Ich bin das jüngste Mitglied unseres ehrenwerten Rates der Elohim. Gemessen an unserer Lebenszeit, die für eure Verhältnisse unvergleichlich lang ist, bin ich kaum älter als du. Aber ich wurde früh für dies hier geprägt. Für meine Geschichte müssen wir aber einen anderen Tag finden. Wir haben Wichtigeres zu besprechen.“
„Ihr seid also real?“, fragte Ben und schämte sich gleich für diese dämliche Frage. Aber was anderes war ihm in der ganzen Verwirrung momentan nicht eingefallen.
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