»Ich verteidige aber lieber.« Robert fuhr sich durch die Haare und machte seiner akkuraten Anwaltsfrisur damit endgültig den Garaus. »Menschen sind nicht perfekt. Sie machen Fehler und Dummheiten, aber wenn sie die bereuen, verdienen sie einen fairen Prozess und jemanden, der eine zweite Chance für sie herausschlägt, findest du nicht?«
Jamie zuckte mit den Schultern und schwieg.
»Was?«, hakte Robert nach. »Denkst du nicht, dass Menschen eine zweite Chance verdienen?«
Jamie presste die Kiefer aufeinander. »Wenn du jemanden verteidigen müsstest, der einen Menschen getötet und einen anderen zum Krüppel gemacht hat, weil er sich besoffen hinters Steuer gesetzt hat, hätte der auch eine zweite Chance verdient?«
Robert sah ihn ernst an. »So einen Fall dürfte ich wegen Befangenheit gar nicht übernehmen.«
Jamie schnaubte verächtlich. »Das ist keine richtige Antwort, Dad.«
»Doch, Jamie, das ist es. Manchmal ist man an einer Sache zu nah dran, um ein objektives Urteil fällen zu können. Dann muss man die Entscheidung anderen überlassen und darauf bauen, dass sie richtig urteilen werden, weil man selbst es einfach nicht kann.«
Jamie schüttelte den Kopf und Robert merkte, dass sein Sohn damit nicht zufrieden war. Seufzend fuhr er sich über die Augen.
»Okay, wenn du eine klarere Antwort von mir hören willst: Ich denke, jemand, der unter Alkoholeinfluss einen Unfall verursacht und dabei Menschen tötet oder schwer verletzt, verdient eine harte Strafe – aber auch eine zweite Chance, wenn er bereut, was er getan hat, und keine Gefahr besteht, dass er so etwas noch einmal tun wird.«
Wieder presste Jamie die Kiefer aufeinander und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Robert legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich weiß, dass das schwer für dich ist, aber du wolltest meine Antwort und ich lüge dich nicht an«, sagte er sanft. »Und ich erwarte ganz sicher nicht von dir, dass du das genauso siehst. Ich kann dir nur sagen, dass der Mann, der schuld an eurem Unfall ist, zutiefst bereut, was er getan hat. Er ist kein Monster. Er ist ein Familienvater und hat zwei kleine Töchter, die gerade mal halb so alt sind wie du und Jemma, und er –«
»Aber das macht die Tatsache, dass er sich besoffen hinters Steuer gesetzt hat, doch nur noch unverzeihlicher!« Aufgebracht schüttelte Jamie den Kopf. »Er hat ja nicht nur das Leben anderer, sondern auch sein eigenes in Gefahr gebracht und seine Mädchen müssen jetzt ohne ihren Vater aufwachsen, weil er im Knast sitzt! Wenn man seine Familie liebt, dann macht man so einen Scheiß einfach nicht!« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich wäre ein ganz mieser Verteidiger.«
Robert drückte seinem Sohn die Schulter. »Du bist in diesem Fall selbst betroffen, deshalb kannst du gar nicht objektiv sein. Aber die Fälle liegen ja nicht immer so. Manchmal werden Menschen völlig zu Unrecht beschuldigt und dann brauchen sie jemanden, der ihnen hilft, damit sie nicht unschuldig im Gefängnis landen.«
Jamie schnaubte wenig überzeugt. »Ja, mag sein. Aber dieser Ian Huntley ist nicht unschuldig, oder? In den Nachrichten hieß es, dass sie DNA-Spuren gefunden haben.«
Robert musterte ihn kurz, respektierte aber den abrupten Themenwechsel und sah seinen Sohn nur bedeutungsvoll an.
Jamie rollte mit den Augen. »Ja, schon gut, ich weiß: Du darfst darüber nicht reden.«
»Kluger Junge.« Neckend strubbelte Robert ihm durch die Haare und nahm dann einen Schluck von seinem Tee. »Ich glaube, wir zwei sollten uns ohnehin lieber über eine ganz andere Sache unterhalten. Dein medizinisches Gutachten ist nämlich heute Nachmittag bei mir eingegangen.«
Stöhnend verbarg Jamie sein Gesicht in den Händen. »Ja, ich hab die E-Mail auch bekommen. Und nein, darüber müssen wir nicht noch mal reden. Das Gutachten ändert gar nichts.«
»Aber damit hast du jetzt die offizielle Bestätigung dafür, dass du dir viel zu viele Gedanken machst. Deine Blutwerte sind in Ordnung, deine Medikamente sind sehr gut eingestellt und die Belastungsprüfung hast du auch locker bestanden. Bei normaler körperlicher Anstrengung ist mittlerweile zu über neunzig Prozent ausgeschlossen, dass spontane Muskelkrämpfe bei dir auftreten. Damit spricht nichts dagegen, dass du mit Jemma und Zack den Führerschein machst.«
Jamie schüttelte den Kopf. »Nein. Zu zehn Prozent bin ich hundertprozentig eine Gefahr im Straßenverkehr und ich werde ganz sicher nicht riskieren, dass ich einen Unfall baue, wenn doch mal ein Krampfanfall auftritt.«
Robert seufzte. »Ich kann verstehen, dass du davor Angst hast, aber du hast seit über einem halben Jahr keinen Anfall mehr gehabt. Und seit dem Sommer haben sich deine Motorik und deine Ausdauer enorm verbessert und deine Muskulatur ist viel kräftiger geworden. Du brauchst den Rollstuhl jetzt gar nicht mehr und dein Risiko für Anfälle ist nicht höher als bei einem Diabetiker, der am Steuer Unterzucker bekommen könnte.«
»Das ist mir egal. Ich muss damit leben, wenn ich jemandem das antue, was dieser Scheißkerl Mum und mir angetan hat. Und das riskiere ich nicht. Ich weiß, du hast es mit dem Gutachten gut gemeint, aber ich will den Führerschein nicht machen. Ich hab Max, der mich fahren kann, und Zack und Jem können es ja auch bald. Ich will nicht selbst fahren und ich will das Thema jetzt auch nicht noch tausend Mal durchkauen. Bitte. Okay?«
»Natürlich ist das okay. Es ist allein deine Entscheidung.«
»Danke.« Jamie rang sich ein kleines Lächeln ab und sein Dad drückte ihm die Schulter.
»Jon hat mir übrigens auch geschrieben, was ihr zwei in der Physio in den letzten Wochen erreicht habt.«
Jetzt lächelte Jamie richtig.
»Wann willst du es Jem und Zack sagen?«
»Wenn ich soweit bin.«
»Ich hoffe, du weißt, wie stolz ich auf dich bin.« Liebevoll wuschelte Robert seinem Sohn durch die Haare, doch als er merkte, wie verlegen Jamie war, wechselte er gutmütig das Thema. »Und? Was gibt’s hier sonst Neues? Wo ist Jem?«
»Oben. Zack auch.«
Roberts gute Laune verflüchtigte sich und er schüttelte verärgert den Kopf. »Haben Trish und Greg ihn also schon wieder versetzt, ja?«
»Wundert dich das?«
Robert schnaubte. »Ich wünschte, es wäre so.« Er nahm einen letzten Schluck Tee und stellte die Tasse auf den Couchtisch. Dann runzelte er die Stirn. »Wolltest du heute nicht eigentlich mit Ned lernen? Ist er schon weg?«
»Ja«, stöhnte Jamie. Er hatte keine große Lust, seinem Dad von dem Streit zu erzählen, aber wenn Jem gleich beim Essen weiterhin wütend auf ihn war und nicht mit ihm reden wollte, würde sein Vater ohnehin wissen wollen, was los war, also brachte er es lieber gleich hinter sich. »Wir haben uns gestritten.«
»Oh.« Robert musterte ihn überrascht. »Schlimm?«
Missmutig zuckte Jamie mit den Schultern. »Es reicht dafür, dass ich jetzt offiziell für ihn und Jem das größte Arschloch der Nation bin.«
Robert zog die Augenbrauen hoch. »Wow. Der ganzen Nation? Na, da hast du ja offensichtlich ganze Arbeit geleistet, mein Sohn.« Er klopfte Jamie spaßhaft auf die Schulter.
»Nicht witzig!«
Robert lächelte. »Willst du es mir erzählen?«
»Damit du mir dann auch noch sagst, dass ich ein Arschloch bin?«
Sein Dad verzog das Gesicht. »Du weißt, dass ich dieses Wort nicht mag, also stehen die Chancen gut, dass du es dir von mir nicht einfängst. Und ich bin ein verdammt guter Anwalt. Du könntest mich als Verteidiger engagieren.« Er grinste vielsagend. »Da ich weiß, was ich dir an Taschengeld zahle, geb ich dir auch Familienrabatt. Und ich akzeptiere Ratenzahlungen.«
Jamie verdrehte die Augen. »Wie wär’s denn mit pro bono?«
»Du meinst, ich soll deinen Fall kostenlos und aus reiner Herzensgüte übernehmen?« Robert lachte. »Na, dafür höre ich mir erst mal an, was genau du verbrochen hast. Also, fang an. Mach es kurz und schonungslos.«
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