Jamie atmete tief durch und tat genau das.
»Ich wollte ihm ganz bestimmt nicht Charlie miesmachen, weil ich sauer wegen der Geheimhaltung bin«, endete er schließlich und strich sich verdrossen durch die Haare. »Klar nerven die blöden Kommentare! Aber selbst wenn die anderen wüssten, dass Ned in einem Biokörper lebt, würden sie mich doch trotzdem fragen, warum ich mich noch mit meiner kaputten Wirbelsäule herumquäle. Oder mir unterstellen, dass ich mein Handicap behalten will, weil ich so wahnsinnig auf deren Rücksichtnahme oder irgendwelche beschissenen Sonderbehandlungen stehe!« Er schnaubte verächtlich und vergrub den Kopf in den Armen.
Seufzend strich Robert ihm über den Rücken.
Nachdem Edward Dunnington im Sommer mit der bahnbrechenden Entwicklung der Bioroboter an die Öffentlichkeit gegangen war, hatte Jamie seinem Vater mit Neds Einverständnis anvertraut, dass nicht nur Angus McLean, sondern eben auch Ned in einem künstlichen Körper lebte. Natürlich war Robert froh, dass Ned auf diese Weise überlebt hatte – und ihm war auch klar, was diese Biokörper für Jamie bedeuten konnten: ein Leben ohne Muskelschmerzen und ohne Angst vor plötzlichen Krämpfen und Lähmungserscheinungen. Ohne tägliche Medikamente, die die Auswirkungen seiner Rückenmarkverletzung zwar lindern konnten, sie aber nie beseitigen würden. Dafür ließen die Nebenwirkungen seinen Sohn viel zu oft mit Appetitlosigkeit, Übelkeit und Magenschmerzen kämpfen und hatten ihm einen BMI von nur noch knapp sechzehn beschert. Ein neuer Körper konnte für Jamie ein Leben ohne Behinderung bedeuten, für die er immer wieder abschätzige Blicke und dumme Kommentare einstecken musste. Und nicht nur das: Anscheinend erwartete man jetzt auch noch eine Rechtfertigung von ihm, weil er trotz seiner Beeinträchtigung das Leben in seinem eigenen Körper mehr schätzte als einen makellosen Hightechroboter.
Jamie hatte ihm erzählt, dass er bei den Dunningtons einen der Bioroboter hatte ausprobieren dürfen, sich in dem fremden Körper aber nicht wohlgefühlt hatte. Und dafür war Robert dankbar, denn auch wenn er an Ned sah, wie unglaublich lebensecht die Biokörper waren, war er sich nicht sicher, ob er seinen eigenen Sohn darin sehen wollte.
»Es ging mir kein bisschen um die bescheuerte Geheimhaltung!«, schimpfte Jamie unter seinen Armen hervor und raufte sich die Haare. »Ich würde ja wahrscheinlich nur noch mehr dämliche Kommentare und Fragen kassieren, wenn alle Welt wüsste, dass einer meiner besten Freunde in einem Bioroboter lebt, ich das aber nicht will! Also ist es ja auch für mich besser, wenn keiner von Ned weiß. Mir ging es echt nur darum, dass er sich bei Charlie keine falschen Hoffnungen macht und enttäuscht wird. Ich hab es einfach nur gut gemeint! Ist das denn wirklich so verdammt schlimm?!«
Jemma stand oben an der Treppe und kaute betreten auf ihrer Unterlippe herum. Sie hatte mit Zack ihre Hausaufgaben erledigt und jetzt eigentlich noch mal mit Jamie reden wollen. Ihre Wut auf ihn war zwar noch nicht verraucht, aber sie hasste es, sich mit ihm zu streiten. Und ein bisschen nagte auch das schlechte Gewissen an ihr, weil sie ihm nicht zugehört hatte. Jedenfalls nicht so, wie ihr Dad es gerade tat. Sie wollte die Treppe hinuntergehen, doch Zack hielt sie am Arm zurück und schüttelte stumm den Kopf. Sie runzelte die Stirn, ließ sich aber von ihm mitziehen, als er sich auf die oberste Stufe hockte.
Unten im Wohnzimmer fuhr Robert sich über die Augen. »Die Zeit nach dem Unfall war fürchterlich.«
Irritiert drehte Jamie sich zu ihm um. Dieser verdammte Unfall, der so schrecklich viel verändert hatte, war zwar sicher kein Tabuthema in seiner Familie, aber sonderlich gern sprach er darüber auch nicht. Sie hatten das Thema vorhin schon mehr als nur gestreift und Jamie hatte keine Ahnung, warum sein Dad jetzt noch mal damit anfing.
»Deine Mum war tot. Du lagst im Koma. Dann die schlimmen Wochen im Krankenhaus, als du begreifen musstest, dass dein Leben von nun an völlig anders sein wird; die Reha, die dir unglaublich viel abverlangt hat – diese Zeit war entsetzlich. Für uns alle. Besonders für dich. Aber auch für Jem. Sie hatte ihre Mum verloren und zwei unerträgliche Wochen lang hatte sie furchtbare Angst, dich auch noch zu verlieren. Und als du dann endlich wach warst, hat sie mit dir gelitten, als auch sie begreifen musste, was mit dir los ist.«
Erneut wischte Robert sich über die Augen, als könnte er damit auch die Erinnerungen verwischen und so vielleicht ein bisschen erträglicher machen. »Ich weiß nicht, wie viele Nächte Charlie in dieser Zeit hier verbracht hat und für Jem da war, wenn sie sich in den Schlaf geweint hat. Charlie ist ein unglaublich positiver Mensch. Sie hat Jem immer wieder aufgefangen, ihr Mut gemacht oder sie einfach weinen lassen. Und sie hat ihr in der Schule den Rücken freigehalten, wenn eure Mitschüler zu neugierig waren und Jem das nicht ertragen konnte.«
Jamie schluckte, als ihm klar wurde, warum Jemma vorhin so auf ihn losgegangen war.
»Ich hab davon nichts mitbekommen«, murmelte er bekümmert. »Klar wusste ich, dass es euch auch beschissen ging, aber ich hab überhaupt nicht mitgekriegt, was hier zu Hause los war. Wie sehr Mum hier gefehlt hat. Wie schlimm die Beerdigung war.« Seine Stimme klang plötzlich rau. Er atmete tief durch und sah dann wieder zu seinem Dad. »Warum hat Jem mir nie gesagt, wie dreckig es ihr ging?«
Robert lächelte traurig und strich ihm über den Rücken. »Hast du ihr gesagt, wie oft du dich im Krankenhaus oder in der Reha in den Schlaf geweint hast?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Aber sie hat es offensichtlich auch so gewusst, oder nicht? Dann hätte ich auch merken müssen, wie mies es ihr ging. Wir sind Zwillinge!«
Robert grub seine Finger in Jamies Schulter und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Jamie. Das Leben hatte dich verdammt hart angerempelt und damit musstest du erst mal klarkommen. Dass du deshalb keinen Kopf dafür hattest, was hier zu Hause oder bei deinen Freunden los war, daraus macht dir ganz sicher niemand einen Vorwurf. Jem schon gar nicht. Oder Zack. Selbst Charlie würde das nicht tun.« Robert lächelte und knuffte ihm sanft in den Rücken. »Obwohl sie dir vermutlich ziemlich in den Hintern treten würde, wenn sie wüsste, dass du denkst, sie könnte für Ned nicht gut sein.«
Jamie verzog das Gesicht. »Ja, vermutlich. Und das ja offensichtlich auch zu Recht.« Stöhnend verbarg er sein Gesicht wieder in den Armen.
»Aber das muss sie ja nicht unbedingt erfahren.«
Überrascht wandten die beiden sich um, als sie Jemmas Stimme von der Treppe hörten.
»Wie lange seid ihr zwei denn schon da oben?«, fragte Robert mit hochgezogener Augenbraue, als Jemma und Zack die Stufen hinunterkamen.
»Lange genug.« Zack grinste schief.
Schmunzelnd schüttelte Robert den Kopf. »Warum wundert mich das jetzt nicht?« Er stand von der Couch auf und zwinkerte Jamie zu. »Ich denke, die Sache kriegst du auch ohne Anwalt geregelt. Also verbuchen wir das hier als kleines Vater-Sohn-Gespräch, dann kann ich mir nämlich den lästigen Schreibkram mit der Rechnung sparen.«
Jamie musste grinsen. »Danke, Dad.«
Robert strubbelte ihm durchs Haar, dann raffte er seine Sachen zusammen und ging zur Treppe. Er gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn und legte Zack eine Hand auf die Schulter.
»Tut mir leid, dass deine Eltern es mal wieder vermasseln.« Er seufzte. »Ich werde nie begreifen, warum die beiden nicht sehen, was sie sich bei dir entgehen lassen.«
»Danke«, murmelte Zack verlegen, doch Robert schüttelte bloß den Kopf.
»Dafür nicht.« Er zog Zack kurz an sich und klopfte ihm väterlich auf den Rücken. Dann wandte er sich noch einmal zu seinen Zwillingen um. »In zehn Minuten erwarte ich heile Welt am Esstisch! Wie ihr zwei das hinkriegt, ist mir völlig egal, aber gönnt mir ein bisschen Familienharmonie. Schlachtfelder hab ich in der Kanzlei momentan nämlich schon mehr als genug.«
Читать дальше