»Ja; aber das ist nur vorteilhaft für Sie, denn je sonderbarer er ist, desto weniger kann der Träger desselben mit einem andern Menschen verwechselt werden. Also Small Hunter. Er ist verschollen. Und wo? Natürlich im Oriente! Oder nicht?«
»Ja, im Oriente!« rief Vogel ganz erstaunt aus. »Auch das wissen Sie, Herr Doktor?« »Auch das! Sie sind an den rechten Mann gekommen, lieber Freund.« »Das sagte auch Winnetou!«
»Aha. Er hat einen kleinen, winzigen Stapfen der Spur erkannt, welcher Sie folgen müssen, und dann gleich alles mögliche gethan, damit sie dem Auge ja nicht wieder entgehen möge. Setzen Sie ihn nur erst auf eine Fährte, dann ist er unermüdlich und zeigt eine unerreichbare Meisterschaft.«
»Sie haben also eine Spur von dem Verschollenen?«
»Ja. Aber vorher muß ich noch fragen: war denn in dem behördlichen Berichte nicht zu lesen, wo man ihn vermuten kann?«
»Doch! Ich besinne mich. Man hat einen Brief gefunden, welchen er von Kairo aus an seinen Vater geschrieben hat.«
»Das ist gut! Wie alt ist der Brief?« »Das war nicht erwähnt.«
»Schade! Es ist gerade ganz nötig, die Zeit zu wissen, wann Small Hunter in Kairo gewesen ist.« »Er hat dort im Hotel du Nil gewohnt, dessen berühmten Palmengarten er ausführlich beschreibt.« »Ist noch etwas aus dem Briefe erwähnt worden?«
»Nein! Und aber doch! Ich besinne mich. Er bittet seinen Vater, die Antwort nach dem amerikanischen Konsulate zu adressieren.«
»Das ist wichtig, sehr wichtig! Die Spur haben wir. Der Gesuchte ist nun mit Sicherheit zu finden, aber freilich als Leiche.«
»Sie halten ihn für tot?«
»Ja. Und dennoch wird er sich zu der Erbschaft melden.« »Ein Toter meldet sich doch nicht zu einer Erbschaft!«
»Manchmal doch! Allerdings nur unter ganz besondern Umständen, welche Sie erfahren werden, wenn ich erst mit Winnetou gesprochen habe.«
»Sie machen mich höchst wißbegierig!«
»Ich werde Sie nicht lange auf die Folter spannen und darum mit dem Apatschen nicht indianisch, sondern englisch sprechen. Verstehen Sie das?«
»Ganz gut. Von dem Tage an, an welchem meine Familie nach Amerika zog, habe ich sehr eifrig Englisch getrieben.«
»So hätten wir uns jetzt dieser Sprache anstatt der deutschen, von welcher der Apatsche nur wenig versteht, bedienen sollen. Ich brauchte mich nun nicht extra an ihn zu wenden. Aber sagen Sie mir doch, ob Sie nicht wissen, ob die Behörde in New Orleans sich an das Konsulat nach Kairo gewandt hat?«
»Die Behörde und auch der Advokat, von welchem ich vorhin sprach.«
»Welche Antwort ist erfolgt?«
»Noch keine; die Zeit ist zu kurz dazu.«
»So weiß ich jetzt alles, was ich wissen muß, um Ihnen den Rat geben zu können, den Sie von mir erwarten werden. Sie sind ja doch nur deswegen zu mir herübergekommen?«
»Ja; ich gestehe das offen. Meine Schwester machte uns darauf aufmerksam, da Sie den Orient kennen und - -«
Er stockte.
»Und - nun sprechen Sie weiter!« forderte ich ihn auf. »Wenn Sie Rat und That von mir verlangen, müssen Sie vollständig aufrichtig zu mir sein.«
»Sie haben das Wort schon selbst ausgesprochen, als Sie von Rat und That redeten. Meine Schwester meint, Sie kennen den Orient und wären wohl der richtige oder gar der einzige, den Verschollenen lebendig oder tot nachzuweisen.«
»Hm! Ich bin Ihrer Schwester sehr dankbar für das Vertrauen, welches sie da in mich setzt. Also nicht bloß raten soll ich, sondern auch thaten! Wissen Sie, was das heißt?«
»Ja. Wir haben uns diese Frage beantwortet. Wir fordern Zeit und Mühe von Ihnen.«
»Vielleicht noch mehr, unter Umständen sogar das Leben.«
»Doch nicht?« fragte er erschrocken.
»Ja, das Leben. Die Spur, welche wir haben, weist nämlich hin auf eine großartige Schurkerei, welche entweder schon geschehen ist oder noch geschehen soll. Der Reisebegleiter, welchen Small Hunter bei sich hat, ist ihm nämlich außerordentlich ähnlich, fast wie ein Ei oder ein Tropfen dem andern. Ich vermute aus sehr guten Gründen, daß diese Aehnlichkeit die Ursache zu einem Morde werden soll oder schon geworden ist.«
»Sie erschrecken mich!«
»Der Reisebegleiter ermordet Small Hunter, um, da er ihm so ähnlich sieht, an seiner Stelle als Small aufzutreten und den alten Hunter zu beerben. Der Reisebegleiter ist ein Verbrecher, und sein Vater und sein Oheim, an den dieser Brief gerichtet war, sind doppelte und dreifache Mörder. Ich werde Ihnen das noch ausführlich erzählen. Mit fester Bestimmtheit kann ich freilich noch nicht von einem Morde reden; aber wie ich die Betreffenden kenne, werden sie unbedingt auf den Gedanken kommen, den Tod des alten Hunter auf diesem gräßlichen Wege für sich auszunützen. Doch nun vor allen Dingen zu Winnetou.«
Dieser hatte, da wir bis jetzt deutsch gesprochen hatten, uns nur wenig verstanden, war aber unsern Mienen und Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Vorher war der Ausdruck der Spannung auf seinem Gesichte zu lesen gewesen; seit ich aber den Brief geholt hatte, war diese verschwunden, um einem Zuge der Befriedigung Platz zu machen. Als er sah, daß ich mich nun auch an ihn wenden wolle, kam er mir mit den Worten zuvor:
»Mein Bruder Old Shatterhand hat meine Vermutungen bestätigt gefunden. Das verschollene Bleichgesicht ist mit dem Neffen Meltons nach der Gegend gereist, welche die Weißen den Orient nennen.«
»Winnetou hat uns beide richtig beobachtet. Der Schärfe seines Auges bleibt nichts verborgen.«
»Dazu bedurfte es keiner großen Schärfe. Old
Shatterhand hat mir damals den Brief gezeigt und vorgelesen; ich merkte mir ihn. Nun kam ich nach Francisco, um die schöne, junge Frau zu sehen, deren Mann uns damals so schwer beleidigte, daß ich die Drohung aussprach, an ihm Rache zu nehmen, wenn ich später seine Squaw im Unglücke finden sollte. Ich erfuhr von dem Unheile, welches sie betroffen hat, und ging zu ihr, um sie zu trösten. Sie hatte Vertrauen zu mir, weil ich dein Freund und Bruder bin, und erzählte mir alles. Sie las mir auch das Schreiben vor, welches sie aus New Orleans erhalten hat. Darin stand der Name Hunter und noch anderes, was mit dem Inhalte deines Briefes stimmte. Da war es leicht, auf die richtige Fährte zu kommen. Wer sie verfehlt hätte, wäre blind und taub gewesen. Die Squaw hat dir einst ihr Vertrauen geschenkt. Ich beschloß, ihr zu helfen. Du allein warst der Mann, durch den ich helfen konnte; darum mußte ich zu dir. Den jungen Mann habe ich mitgenommen, weil er die Angelegenheit kennt und die Sprache deines Vaterlandes versteht, deren ich nicht mächtig bin. Welche Gedanken beabsichtigt nun mein Bruder, zu befolgen?«
»Jonathan Melton schreibt, daß er seine Aehnlichkeit mit Small Hunter ausnutzen werde. Was meint Winnetou, worin diese Ausnutzung bestehen wird? Etwa nur in Fälschungen und Betrügereien?«
»Nein. Small Hunter wird sterben, wenn nicht rechtzeitig ein Retter erscheint.«
»Davon bin ich auch überzeugt. An seiner Stelle wird Jonathan Melton erscheinen und die Erbschaft heben. Es muß sogleich ein tüchtiger Mann nach Kairo, um beim Konsulate nachzufragen und die Spur dann weiter zu verfolgen.«
»Dieser Mann sind Sie!« fiel da Vogel ein, indem er meine Hände ergriff. »Gehen Sie; reisen Sie; beeilen Sie sich, ehe es zu spät wird!«
»Hm! Die Sache interessiert mich allerdings ungeheuer; aber meinen Sie, daß ich nur so hier sitze, um auf irgend eine Veranlassung hin meine Arbeiten wegzuwerfen und mich da drüben jenseits des Mittelmeeres mit Verbrechern herumzuschlagen?«
»Thun Sie es dennoch, thun Sie es! Wenn Sie Small Hunter retten, wird er Sie reich belohnen. ist er aber schon tot und Sie entlarven seinen Doppelgänger, so sind wir gern bereit, Ihnen einen Teil der Erbschaft auszuzahlen.«
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