»Ja. Er bekommt seine Briefe an einen dortigen Handelsmann nachgeschickt.«
»Kennst du den Namen desselben?«
»Er ist ein Jude, und wenn ich mich nicht irre, so nannte er ihn - hm, wie war doch der Name!« »Musah Babuam?«
»Ja, richtig; so hieß der Mann! Aber wie kommt es, daß du dich nach solchen Nebendingen erkundigst, nach denen sonst kein Mensch zu fragen pflegt?«
»Weil die Nebendinge mich auf die Hauptsache bringen. Mir scheint, daß Hunter ein Betrüger ist.« »Ein - Betrüger -?« fragte Emery im höchsten Grade erstaunt. »Das - ist - ganz - unmöglich!« »Es ist nicht nur nicht unmöglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich.«
Winnetou hatte bis jetzt kein Wort gesagt, aber, da wir englisch sprachen, alles verstanden. Jetzt meinte er mit der Betonung eines Mannes, der seiner Sache sicher ist:
»Mein Bruder Old Shatterhand ist auf der richtigen Spur. Dieser Small Hunter ist nicht der richtige Small Hunter, sondern ein falscher.«
»Ein falscher?« fragte Bothwell. »Ihr meint, daß er nicht seinen echten Namen führt?« »Ja, das meinen wir,« antwortete ich. »Er heißt Jonathan Melton.« »Den Namen nanntest du doch vorhin als denjenigen seines Begleiters?« »Allerdings. Er ist eigentlich der Begleiter dessen, für den er sich ausgiebt.« »Das sind mir Rätsel. Erkläre dich!«
Später konnte er alles vollständiger hören; jetzt erzählte ich ihm nur soviel, wie, um ihn zu unterrichten, nötig war. Er hörte mir mit sich immer mehr spannender Aufmerksamkeit zu und zeigte sich, als ich fertig war, mit dem, was er gehört hatte, nicht zufrieden; ich mußte ausführlicher sein und ihm alles erzählen, von meiner damaligen Reise in Mexiko an bis auf den heutigen Tag. Als ich geendet hatte, hätte ein anderer seinen Gedanken oder Empfindungen wohl sofort lauten Ausdruck gegeben, er aber saß lange wortlos da und blickte sinnend vor sich nieder. Dann, als er den Kopf hob, sagte er, indem seine Augen glänzten:
»Das wird eine hochinteressante Reise nach Tunis, weil du auf einer prächtigen Fährte bist. Mein Master Hunter ist wirklich kein anderer als Jonathan Melton, der Begleiter.«
»Woraus schließest du das?«
»Das fragst du noch! Ah, du willst meinen Scharfsinn auf die Probe stellen!« »Und weißt du, wer jener Kolarasi, jener tunesische Hauptmann ist?«
»Thomas Melton, den du vor neun Jahren von Fort Uintah bis nach Fort Edward getrieben hast. Acht Jahre lang ist er in Tunis; es liegt also ein Jahr dazwischen, und das hat für ihn genügt, sich soviel Sprachfertigkeit anzueignen, daß er in das tunesische Militär eintreten konnte. Was meinst du dazu?«
»Ich bin ganz deiner Ansicht.«
»Warum läßt dieser Hunter, den ich kenne, seine Briefe an den Juden adressieren und nicht an den Kolarasi, den er doch kennt?«
»Weil er eben nicht Hunter, sondern Melton ist. Der wirkliche Hunter kennt den Kolarasi nicht; er hat seine Briefe also an einen Geschäftsmann richten lassen, von dem er wußte, daß er ihn in Tunis besuchen müsse. Aber weiter! Warum logiert Hunter in Alexandrien privat und nicht in einem Hotel?«
»Weil er sich nicht sehen lassen, sondern verborgen bleiben will.«
»Und warum ist er nach drei Monaten noch in Aegypten, während man hier die Ueberzeugung hegt, daß er sich in Tunis befindet?«
»Weil er sich für den echten Hunter ausgiebt, der in Wirklichkeit nach Tunis ist.«
»Nein! Hier in Aegypten hat er sich nicht für diesen ausgeben, sondern verborgen bleiben wollen; daß er deine Bekanntschaft gemacht hat, war von ihm eine Unvorsichtigkeit, welche er wahrscheinlich zu büßen haben wird.«
»Aber warum ist er hier geblieben? Warum hat er den echten Hunter, dessen Reisebegleiter er war, allein nach Tunis gelassen?«
»Das kannst du dir nicht erklären?«
»Wenigstens nicht vollständig.«
»Ich nehme unbedingt an, daß er den Tod des alten Hunter erfahren hat und dadurch auf den Gedanken gekommen ist, den er aber sehr wahrscheinlich schon früher gehabt hat, der Erbe des Verstorbenen zu werden. Das wird ihm durch den Umstand erleichtert, daß er eine außerordentliche Aehnlichkeit mit dem jungen Hunter besitzt und während des langen Beisammenseins mit diesem die Gelegenheit gefunden hat, die Verhältnisse desselben genau zu studieren. Es ist sogar zu denken, daß er sich Mühe gegeben hat, die Handschrift seines Reisegefährten genau nachzuahmen. Auf die Nachricht von dem Tode des Alten hat er den Jungen unter irgend einem Vorwande nach Tunis zu dem Kolarasi oder, um den richtigen Namen zu gebrauchen, zu seinem Vater Thomas Melton geschickt, wo derselbe aus dem Wege geschafft werden, also verschwinden soll. Jetzt fährt er nach, um an die Stelle des Verschwundenen zu treten, nach Amerika zu gehen und das Erbe einzuheimsen. Das sind meine Gedanken, und ich glaube nicht, daß sie mich trügen.«
»Mein Bruder Old Shatterhand hat recht,« stimmte Winnetou bei.
Und auch Emery meinte:
»So wie du es darstellst, kann ich nicht anders als dir beipflichten. Aber sollte man so teuflische Pläne für möglich halten?«
»Denke an Harry Melton, den ich den Satan nenne und von welchem ich dir erzählt habe. Hat er nicht eben solche und noch schlimmere Pläne erdacht und auch ins Werk gesetzt? Es giebt, Gott sei es geklagt, Menschen, welche nur dem Namen nach Menschen sind, und zu diesen gehören die drei Meltons, Vater, Sohn und Oheim.«
»Ich bin, wie gesagt, ganz deiner Ansicht. Sollte sie die richtige sein, so ist es unsere Pflicht, den jungen Hunter zu retten, wenn das noch möglich ist. Aber wie?«
»Durch schnelles Eingreifen. Wir dürfen uns auf keinen andern, auch nicht auf die Behörde, verlassen,
sondern müssen selbst handeln.«
»Also nach Tunis?«
»Ja. Den jungen Melton haben wir schon in Alexandrien in der Hand, und seinen Vater werden wir, denke ich, ebenso leicht bekommen.«
»Aber klug müssen wir sein!«
»Was das betrifft, so meine ich nicht, daß es großer Pfiffigkeit bedarf. Es ist nichts weiter als ein wenig Energie notwendig.«
»Aber ohne Unterstützung der tunesischen Behörde können wir doch nichts thun!« »Die wird mir gern jeden Gefallen erweisen, den ich mir von ihr erbitte.«
»Ah,« lächelte er, »du hast wohl mit Mohammed es Sadok Pascha, dem Gebieter von Tunesien, Brüderschaft getrunken?«
»Das nicht. Aber was noch besser ist, ich kenne seinen "Herrn der Heerscharen" sehr gut.« »Herr der Heerscharen? Was für ein Titel ist das?«
»Mein Freund Krüger-Bei wird so genannt, weil er der oberste der Leibwache oder Leibscharen ist.« »Krüger? Das ist doch kein tunesischer, sondern ein deutscher Name!«
»Krüger ist auch ein Deutscher von Geburt. Er hat eine Vergangenheit hinter sich, wie sie kein Romanschreiber sich phantastischer aussinnen könnte. Es ist eben das, was ich so oft behaupte: das Leben ist der fruchtbarste Romanschriftsteller, den es giebt. Von Krüger selbst ist zwar über sein früheres Leben soviel wie nichts zu er- erfahren, aber ich glaube, daß er aus der Mark Brandenburg stammt und wahrscheinlich Brauerbursche oder so etwas ähnliches gewesen ist. Auf der Wanderschaft nach Frankreich verschlagen, hat er sich in die Fremdenlegion anwerben lassen, ist in Algerien desertiert, über die tunesische Grenze entwichen und dort Sklave geworden. Infolge seiner Anstelligkeit steckte man ihn später unter das Militär; er hielt aus, avancierte, kam zur Leibwache und hat es schließlich bis zum Obersten derselben gebracht. Mohammed es Sadok Pascha schenkt ihm sein ganzes Vertrauen.«
»So ist er also ein guter Soldat?«
»Ein tüchtiger Soldat, ein treuer Beamter und ein guter Mensch. Leider ist er Mohammedaner geworden! Er hängt noch mit großer Liebe an seinem Vaterlande, mag aber von dem einzelnen Deutschen nichts wissen. Mit mir hat er eine Ausnahme gemacht und mir die beiden Male, an denen ich bei ihm war, eine wirkliche herzliche Zuneigung erwiesen.
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