»Mr. Melton,« rief ich ihn nach einiger Zeit an, »habt ihr gehört, was geschehen ist?«
»Ja,« antwortete er ruhig.
»Euer Vater ist tot!«
»Well, er hat sich erstochen.«
»Reißt Euch das denn nicht das Herz aus der Brust?«
»Warum? Dem Alten ist wohl. Der Tod hier war das beste für ihn; er hätte sonst doch baumeln müssen!«
»Mensch, Mensch, so redet Ihr von Euerm Vater?«
»Meint Ihr, daß er anders über mich gesprochen hätte?«
Ich wußte zwar, daß er recht hatte, antwortete aber doch:
»Gewiß anders, ganz anders!«
»Nein, Sir. Er hätte mich ebenso wie jeden andern verraten und geopfert, wenn es für ihn von entsprechendem Nutzen gewesen wäre. Scharrt ihn zu seinem Bruder ein, den er umgebracht hat!«
Diese Gefühllosigkeit und Herzenshärte brachte mich noch weit mehr zum Grauen als der Selbstmord an sich. Kann es wirklich solche Menschen geben? Ja, es giebt welche! Sind sie aber dann noch Menschen zu nennen? Allerdings, und gerade weil sie Menschen sind, darf man bis zum letzten Augenblicke nicht an der Möglichkeit der Besserung zweifeln. Gott ist die Liebe, die Gnade, die Langmut und Barmherzigkeit! -
Wir begruben den Toten, ohne ihm das Messer aus der Brust zu ziehen, da, wo er es gewollt hatte, bei seinem Bruder. Hierauf ritten wir eine große Strecke weiter, um erst dann anzuhalten und wieder zu lagern. Ich glaube, keiner von uns, außer Jonathan und Murphy, hat in dieser Nacht geschlafen.
Am zweiten Tage darauf kamen wir in Albuquerque an, wo wir unsere Pferde ausruhen ließen. Hier gaben wir unsere Erlebnisse und Aussagen zu den Akten und baten uns zur bessern Beaufsichtigung Meltons zwei Polizisten aus. Für Martha wurde ein Wagen genommen; sodann ging es weiter, auf der Canadianstraße bis Fort Bascom und von da aus auf der Red Riverstraße nach dem Mississippi und bis New Orleans.
Wie staunten die Herren Detektives dort, als wir den Missethäter brachten, aus dem verborgensten Winkel des wilden Westens geholt! Und welch ein Aufsehen gab es, als nach und nach die Umstände bekannt wurden, unter denen wir ihn verfolgt und endlich ergriffen hatten. Winnetou, der "Fürst der Fährtenfinder", war der Held des Tages; er ließ sich aber nicht sehen, und wir andern blieben ebenso versteckt. Leider
mußten wir lange, lange bleiben, um als Zeugen vernommen zu werden.
Es wurde bekannt, in welchem Hause Martha mit ihrem Bruder wohnte. Es sprach sich auch herum, daß sie eine sehr schöne Lady und eine excellente Sängerin sei. Von da an gingen bei ihr täglich wenigstens ein halbes Dutzend Heiratsanträge ein; er aber bekam eine angsterregende Ueberschwemmung von allen möglichen Projekten, durch deren Ausführung er das ihm jedenfalls zuzusprechende Vermögen in kürzester Zeit verdrei-, verzehn- und gar verhundertfachen könne.
Und es wurde der Familie Vogel zugesprochen. Murphy war durch meine Drohungen eingeschüchtert worden und bemühte sich, den Schaden, welchen er angerichtet hatte, möglichst auszugleichen. Davon aber, daß er an meinem Lasso gehangen hatte, um antworten zu lernen, erzählte er keinem Menschen etwas. Später aber habe ich einen von ihm geschriebenen Bericht über seine damaligen Erlebnisse gelesen, welcher, wenn ich mich nicht ganz irre, im "Crescent" erschien. Zu meiner großen Verwunderung und nachhaltigen Besserung las ich da schwarz auf weiß, daß er alles ganz allein gewagt, gethan, erreicht und in das richtige Geleis gebracht hatte, während
Winnetou, Emery, Dunker und ich nur ganz unbedeutende, nebensächliche Personen gewesen waren. So kann man sich über seine eigenen, scheinbar gut im Gedächtnisse aufbewahrten Erlebnisse im erstaunenswertesten Irrtum befinden! Ich habe mich seit jener Zeit stets gehütet, etwas zu denken, zu sagen oder gar zu thun, wenn dabei drei oder fünf Meilen in der Runde ein amerikanischer Advokat anzutreffen war. Meine Reiseerlebnisse sind in hundert amerikanischen Zeitungen und in tausend amerikanischen Büchern ab- und nachgedruckt worden, ohne daß man mich darum fragte oder, was ein vernünftiger Mensch und Deutscher übrigens gar nicht verlangen kann, mir in Gnaden ein Exemplar davon gab; die amerikanischen Verleger sind steinreich geworden; mein einziges Honorar aber hat in einem bohnenstrohgroben Briefe bestanden, den der gebildetste dieser Gentlemen mir schrieb; die andern hielten es für geboten, mir gar nicht zu antworten. Wenn dazu dann noch so ein Mr. Fred Murphy kommt und, anstatt mich nur nachzudrucken, meine Erlebnisse für die seinigen erklärt, so kommt man, wenn man halbwegs ein gutes Gemüt besitzt und seinem Nebenmenschen etwas gönnt, leicht auf den Gedanken, fernerhin hübsch daheim zu bleiben, um auch einmal nachzudrucken, Mr. Murphy aber reisen zu lassen.
Und nun der Schluß?!
Der lange Dunker steigt noch immer im wilden Westen herum. Von Emery wird der liebe Leser wohl bald wieder etwas hören. Krüger-Bei ist gestorben, wie kürzlich auch die Zeitungen meldeten, leider aber nicht in seiner unübertroffenen deutschen Ausdrucksweise. Jonathan Melton, der falsche Small Hunter, wurde zu vieljähriger Einzelhaft verurteilt, ist aber bald in seiner engen Zelle zu Grunde gegangen, hoffentlich nicht auch in Beziehung auf seine Seele. Judith hat nie wieder von sich hören lassen.
Und die Familie Vogel?
Bei dieser Frage geht mir, ich mag wollen oder nicht, das Herz auf. Nicht in großen Welt-, sondern in Provinzialblättern kleinen und kleinsten Formates liest man zuweilen eine Annonce ungefähr folgenden Wortlautes: »Begabte Kinder armer, braver Eltern werden unentgeltlich in Pension genommen und gratis ausgebildet. Näheres wolle man usw.« Auf die darauf erfolgende Meldung erscheint dann gewöhnlich ein sehr feiner und lieb dreinschauender Herr, um das Kind zu prüfen oder prüfen zu lassen. Besteht es die Prüfung, so nimmt er es mit in ein großes, sehr freundlich eingerichtetes Haus, an dessen Thor auf einem kleinen Messingschilde der einfache Name »Franz Vogel« angebracht ist. Das Kind des darbenden Arbeiters, der hungernden Witwe, welches dieses Haus betritt, verläßt es später nur mit Thränen, innerlich und äußerlich aber wohl ausgerüstet für die Kämpfe, welche es im Leben zu bestehen hat. Wird dieser wohlthätige Herr gefragt, warum er seine Freude gerade daran finde, Kinder auszubilden, welche ohne ihn nichts sein und nichts werden könnten, so pflegt er nur still vor sich hinzulächeln. Hat ihn die Frage aber in einer besonders mitteilsamen Stunde getroffen, so antwortet er wohl:
»Ich selbst bin ein solcher armer Junge gewesen; ich fand zwar keine Annonce, welche mir emporhalf, aber
ich wurde gefunden, und es ist nun mein größtes Glück, wiederzufinden.«
Und droben in einem Gebirgsdörfchen ragt ein hohes, mit einem Türmchen gekröntes Gebäude empor, welches von einem wohlgepflegten Garten umgeben ist. Als ich es zum erstenmal erblickte, war ich von der Besitzerin eingeladen worden, mir dieses Haus, seine Einrichtung und seine Bewohner anzusehen. Ich wußte nichts von demselben, denn ich war lange in der Fremde gewesen, und die nachgesandten Briefen hatten mich nicht getroffen.
Wie staunte ich, als ich das prächtige Gebäude sah! Ueber dem hohen, breiten Thore war in großen, goldenen Lettern zu lesen: »Heimat für Verlassene.« Im Flur klingelte ich. Ein altes, reinlich gekleidetes Mütterchen erschien, fragte, ob ich Frau Werner sprechen wolle, und bat um meinen Namen. Als ich denselben nannte, schlug sie die Hände zusammen und rief:
»Da sind Sie doch wohl gar der gute Herr Shatterhand, von dem uns die liebe Frau Werner so oft vorliest und auch viel erzählt! O, Sie müssen unsere Heimat kennen lernen; ich bin selbst auch so eine Verlassene gewesen!«
Sie führte mich in ein einfach eingerichtetes Zimmer, in welchem eine ebenso einfach gekleidete Dame stand. Das war sie, die frühere Sängerin, jetzige Millionärin und zugleich Engel der Witwen und Waisen und aller Art von Verlassenen.
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