Es mochte zwei Stunden nach Mittag sein, als der Bote zurückkehrte und mir meldete, daß Emery in zehn Minuten da sein werde. Ich hatte Winnetou gesagt, was zu thun sei; er ging nach dem Walde, zu den dort postierten Nijoras, ich aber zu dem Häuptlinge derselben und sagte letzterem:
»Die Waffen dort werden von zwanzig deiner Leute bewacht, welche vielleicht nicht ausreichen dürften.« »Warum nicht?« fragte er.
»Man wird in kurzer Zeit die Mogollons bringen, welche ich am tiefen Wasser und an der Quelle des Schattens gefangen habe. Es ist möglich, daß ihre Brüder beim Anblicke derselben. wütend werden und nach ihren Waffen laufen, um die Gefangenen zu befreien. Halte noch zwanzig Mann bereit. Sobald ich dir mit der Hand ein Zeichen gebe, schickst du auch sie hinab zum Waffenhaufen, der dann von vierzig Mann bewacht ist.«
Nach dieser Weisung ging ich zu dem "starken Winde" und seinen beiden Aeltesten, setzte mich zu ihm nieder und sagte:
»Die Bedenkzeit, welche ich dir gewährte, wird bald abgelaufen sein. Ihr habt euch besprochen. Seid ihr zu
einem Beschlusse gekommen?«
»Noch nicht,« antwortete er.
»So beeilt euch! Sobald die Zeit vorüber ist, muß ich eure Antwort haben.«
»Willst du uns die Zeit nicht verlängern?«
»Nein, das kann weder uns noch Euch Nutzen bringen.«
»Man erzählt sich, daß Old Shatterhand stets gütig sei; warum bist du es nicht auch gegen uns?« »Ich bin es gewesen; ich habe euch Zeit genug gegeben.« »Aber nicht soviel, wie wir brauchen!«
»Ihr hättet viel weniger gebraucht, als ihr bekommen habt, wenn nicht hinter deiner Stirn Gedanken der Rettung durch Leute wohnten, welche dich nicht retten können.«
»Von welchen Leuten redest du?«
»Von den zehn Kriegern, welche du heute früh am Quell des Schattens zurückgelassen hast.« Er erschrak, beherrschte sich aber, und fragte ziemlich unbefangen:
»Du sprichst von zehn Kriegern? Meinst du vielleicht Mogollons, die an der Quelle des Schattens sind?« »Ja; sie waren dort, zwei weiße Gefangene zu bewachen, einen Mann und eine Squaw. Ist es nicht so?« »Ich weiß nichts davon.«
»Sagtest du nicht, daß dein Mund nie die Unwahrheit rede? Und jetzt belügst du mich! Du selbst hast in der letzten Nacht an der Quelle des Schattens gelagert. Du saßest bei einem kleinen Feuer, um Tabak zu rauchen, mit drei alten Kriegern am Wasser, und ich lag bei euch, um euch zu belauschen. Zwei Kundschafter kehrten zurück, und einer von ihnen meldete dir, daß sie einem Nijora begegnet seien. Giebst du das zu?
Er antwortete nicht; darum fuhr ich fort:
»Der Nijora, dem sie begegneten, war ein Bote, den ich dem "schnellen Pfeile" schickte, um ihm sagen zu lassen, wann ihr heute auf der Platte ankommen würdet. Dann kroch ich von euch fort und stieg trotz des Wächters, welcher dabei saß, zu den Gefangenen in den Wagen, um ihnen zu sagen, daß ich sie heute früh befreien würde.«
»Uff, uff!« rief da der jetzt überzeugte Häuptling. »Nur dir oder Winnetou kann so etwas gelingen. Hast du das Wort gehalten, welches du den Gefangenen gabst?«
»Ja. Als du aufbrachst, war ich mit meinen Kriegern hinter der Höhe am Quell verborgen. Als ihr fort waret, brachen wir hervor, nahmen die zehn Krieger, welche du zurückgelassen hattest, gefangen, befreiten die beiden
Bleichgesichter, bespannten den Wagen mit acht Pferden und fuhren und ritten euch nach.« »Warum mit dem Wagen?«
»Eine Kriegslist, die uns gelungen ist. Es giebt übrigens noch mehr Krieger, von denen du denkst, daß sie zu den zehn stoßen würden.«
»Wo?«
»Bei Melton, dem du fünfzig Krieger anvertraut hast.«
»Uff, uff!« rief der Häuptling, jetzt doppelt erschreckt. »Woher weiß du das?«
»Ich erfuhr es, als ihr es im Kriegsrate erwähntet. Die Männer sollten ausziehen, mich und Winnetou zu fangen.«
»Weißt du denn, ob sie dann auch wirklich ausgezogen sind?«
»Ja. Ich habe sie gesehen am Brunnen des Schlangenberges. Ich lag auch dort am Wasser und habe Melton belauscht.«
»Uff! Kann Old Shatterhand sich unsichtbar machen?«
»Nein. Aber wenn die roten Männer keine Augen und Ohren haben, so ist es leicht, sie zu behorchen. Melton sagte, daß er nach dem tiefen Wasser ziehen und von dort an dir folgen werde.«
»Hat er das gethan?«
»Ja. Aber als er mit seinen fünfzig Kriegern nach dem tiefen Wasser kam, lag ich schon mit fünfzig dort und nahm sie alle gefangen. Dann sind sie dir wirklich gefolgt, freilich aber als unsere Gefangenen.«
Er sah mir durchdringend in das Gesicht und fragte:
»Aber wo sind die Gefangenen? Du bist ja da!«
»Kann man gefangene Feinde während des Kampfes gebrauchen? Ich habe sie an der Quelle des Schattens zurückgelassen, aber sofort nach ihnen geschickt, als ich erriet, daß du Rettung von ihnen erhofftest. Du wirst sie sehen, denn sie werden bald erscheinen. Da schau! Dort kommen sie!«
Ich hatte gesehen, daß Winnetou unter den Bäumen hervortrat und den Arm empor hob. Auf dieses Zeichen kamen auch seine hundertfünfzig Nijoras hervor, knieten nieder und legten ihre Gewehre auf die entwaffneten Mogollons an.
»Was ist das? Was soll geschehen?« fragte mich der Häuptling der letzteren erschrocken. »Nichts wird geschehen, wenn deine Krieger sich ruhig verhalten,« antwortete ich. »Horch!« Winnetou ließ seine mächtige Stimme erschallen:
»Die Krieger der Mogollons mögen hören, was ich ihnen sage! Man wird jetzt ihre Brüder bringen, welche wir gefangen haben. Wer sich ruhig verhält, dem geschieht nichts; wer sich aber von seinem Platze
entfernt, der wir erschossen.«
»Ist dies sein Ernst?« fragte mich der Häuptling.
»Siehst du das nicht? Sind nicht die Läufe aller seiner Nijoras auf deine Mogollons gerichtet?« »Ja. Und was sollen die Krieger, welche jetzt vom Felsen steigen?«
Vor dieser Frage hatte ich dem Häuptlinge der Nijoras einen Wink mit der Hand gegeben, und antwortete nun demjenigen der Mogollons:
»Das sind zwanzig Männer, welche auf meinen Befehl hin die Wächter dort bei euern Waffen verstärken sollen, weil es deinen Mogollons einfallen könnte, ihre Waffen zu holen, um ihre gefangenen Gefährten zu befreien.«
»Das wäre Thorheit, denn ihr würdet sie niederschießen, noch ehe sie ihre Waffen erlangt hätten.« Er wendete sich an die beiden Alten und befahl ihnen:
»Eilt zu unsern Kriegern und sagt ihnen, daß sie sitzen bleiben sollen, es geschehe, was geschehe. Dann kommt ihr wieder zu mir herüber!«
Sie entfernten sich, um die Botschaft auszurichten, und kamen gerade zur richtigen Zeit, denn kaum waren sie drüben bei den Ihrigen angelangt, so sah ich Emery als den vordersten seines Zuges vorn an der Einmündung des Hohlweges erscheinen. Ich sprang auf, winkte ihm zu und rief:
»Hallo, Emery, alle zu mir herüber!«
Er sah und hörte mich, und nahm die Richtung auf uns zu. Ihm folgten seine Nijoras, in drei Gruppen geteilt, zwischen denen in zwei Gruppen die gefesselten Gefangenen ritten. Beim Anblicke derselben herrschte eine wahre Totenstille auf der Platte. Unsere Vorkehrungen waren also gut gewesen; sie hatten die gefürchteten Ausschreitungen verhindert.
Ich richtete den Häuptling der Mogollons in sitzende Stellung auf, lehnte ihn mit dem Rücken an einen Stein, sodaß er alles gut sehen konnte, und fragte ihn:
»Erkennst du dort die Gefangenen?«
»Melton,« antwortete er. »Die weiße Squaw und der Mann und die Squaw, welche wir im Wagen bei uns hatten.«
»Zähle deine Leute!« »Sechzig gefangene Krieger.«
»Die übrigen sind Yumas, welche sich bei der Squaw Meltons befanden. Auch sie haben wir gefangen genommen.«
Der Zug war jetzt bei uns angekommen, ritt an uns vorüber und hielt dann an. Die gefangenen Mogollons senkten ihre Köpfe, als sie ihren Häuptling auch gefesselt bei mir liegen sahen. Melton blickte mir frech ins Gesicht. Als sich der Zug aufgelöst hatte, und alle Gefangenen von den Pferden genommen und auf die Erde gelegt worden waren, kamen die beiden Aeltesten zurück. Ich fragte ihren Häuptling:
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