Mit seiner Gewohnheit, die Dinge von der guten Seite zu betrachten, sprach Herr Cascabel die Wahrheit. Wozu eine Brücke, die Millionen kosten würde, wenn man nur den günstigen Augenblick abzuwarten brauchte, um zu Fuß wie zu Wagen sicher hinüberzukommen.
Es konnte ja nicht mehr lange anstehen. Man mußte nur ein wenig Geduld haben.
Zu Anfang Oktober war der Winter in diesen hohen Breiten endgiltig eingezogen. Es schneite häufig. Jede Spur von Vegetation war verschwunden. Die wenigen Bäume des Küstengebietes verloren ihre letzten Blätter und bedeckten sich mit Reis. Man sah nichts mehr von den verkümmerten der Polargegenden, deren Gattungen so nahe verwandt mit denen Skandinaviens sind, und auch keine jener Linaria, welche fast ausschließlich den Kräuterschatz der Polarflora bilden. Und wenn die Eisschollen auch, von der schnellen Strömung getragen, noch immer durch die Meerenge trieben, so nahmen sie doch an Größe und Dicke zu. Wie es nur einer kurzen Erhitzung bedarf, um Metalle anzuschweißen, so würde es auch hier nur einer kurzen Erkaltung bedürfen, um die Eisstücke zu verbinden. Es konnte jeden Tag dazu kommen.
Aber wenn die Familie Cascabel auch Eile hatte Port-Clarence zu verlassen, und wenn es ihr auch große Freude machen würde, endlich das alte Festland zu betreten, so hatte diese Freude trotz alledem eine Beimischung von Trauer. Handelte es sich doch um die Trennungsstunde. Gewiß würde man Alaska verlassen; aber Herr Sergius würde dort zurückbleiben, da er nicht weiter nach Westen vorzudringen gedachte. Sobald der Winter vorüber war, würde er seine Ausflüge in jenem Teil von Amerika, dessen Erforschungen er zu vollenden wünschte, wieder aufnehmen, indem er die nördlich vom Youkon und jenseits der Berge gelegenen Gebiete besuchte.
Eine grausame Trennung für die einen, wie für die andern, denn sie waren alle nicht allein durch gegenseitige Sympathie, sondern auch durch eine innige Freundschaft verbunden.
Man wird unschwer erraten, daß Jean am allerbetrübtesten war. Konnte er doch nicht vergessen, daß Herr Sergius Kayette mit sich fortnehmen werde! Aber lag es nicht im Interesse der jungen Indianerin, daß ihre Zukunft der Sorge ihres neuen
Vaters anheimgestellt blieb? Bei wem konnte sie besser aufgehoben sein, als bei Herrn Sergius? Er hatte sie an Kindesstatt angenommen; er würde sie nach Europa bringen, sie unterrichten lassen, ihr eine Stellung sichern, wie sie ihr eine arme Gauklerfamilie niemals bieten könnte. Hätte man angesichts solcher Vorteile zögern dürfen? Nein, gewiß nicht! und Jean war der Erste, es einzusehen. Aber er empfand trotzdem einen Kummer darüber, der sich in seiner wachsenden Traurigkeit verriet. Wie hätte er sich auch zu beherrschen vermocht? Sich von Kayette trennen - sie nicht mehr sehen - nicht einmal auf ein Wiedersehen mit ihr hoffen dürfen, wenn sie ihm physisch und moralisch so weit entrückt sein, wenn sie ihren Platz in der eigenen Familie des Herrn Sergius eingenommen haben würde - die süße Gewohnheit, mit einander zu plaudern, zu arbeiten, stets beisammen zu sein, aufgeben müssen - es war zum Verzweifeln!
Wenn Jean sehr unglücklich war, so konnten seine Eltern und Geschwister sich auch ihrerseits nicht in den Gedanken finden, ihre innig geliebte Kayette und Herrn Sergius verlieren zu sollen. Sie hätten, wie Herr Cascabel sagte, viel darum gegeben, Herrn Sergius bis ans Ziel ihrer Reise zum Gefährten zu haben. Da könnte man noch einige Monate mit ihm verbringen und dann. hernach. würde man ja sehen.
Wie bereits erwähnt, hatten die Einwohner von Port-Clarence die Familie sehr liebgewonnen. Sie sahen nicht ohne Besorgnis den Augenblick herannahen, wo sie sich wirklich ernsten Gefahren in den Steppen aussetzen würden. Aber wenn die Eingebornen diesen in so große Ferne ziehenden Franzosen Sympathie bezeigten, so waren dagegen einige der vor kurzem an der Meerenge eingetroffenen Russen geneigt, dem Personal der Truppe und insbesondere Herrn Sergius aus ganz anderen Gründen Aufmerksamkeit zu schenken.
Man wird sich erinnern, daß eben damals eine gewisse Anzahl jener Beamten in Port-Clarence weilte, welche die Annexion von Alaska nötigte, sich nach Sibirien zurückzubegeben.
Unter diesen Beamten waren zwei mit einer ganz speziellen Mission auf den der moskowitischen Verwaltung unterstehenden amerikanischen Gebieten betraut gewesen. Dieselbe bestand in der Überwachung der politischen Flüchtlinge, welchen Neu-England ein Asyl gewährte, und die versucht sein könnten, die alaskische Grenze zu überschreiten. Nun erschien ihnen dieser Russe, welcher der Gefährte und Gast einer Gauklerfamilie geworden war, dieser Herr Sergius, der knapp an der Grenze des Zarenreichs Halt gemacht hatte, ein wenig verdächtig. Sie verloren ihn denn auch nicht aus den Augen, vermieden aber sorgfältig, sich etwas anmerken zu lassen.
Herr Sergius ahnte demzufolge nicht, daß er der Gegenstand eines gewissen Mißtrauens sei. Er fürchtete ebenfals nichts, als die nahe Trennung. War er unschlüssig, ob er seine Forschungsreise durch Westamerika wieder aufnehmen, oder aber seine neuen Freunde nach Europa begleiten solle? Es wäre schwer gewesen, das zu entscheiden. Indessen beschloß Herr Cascabel, da er ihn ziemlich nachdenklich sah, eine Auseinandersetzung über diesen Gegenstand herbeizuführen.
Eines Abends, am elften Oktober, wandte er sich nach dem Nachtmahl zu Herrn Sergius und bemerkte, als ob er etwas Neues vorbrächte:
»Nebenbei gesagt, Herr Sergius, Sie wissen, daß wir bald nach Ihrem Vaterlande aufbrechen werden?«
»Allerdings, meine Freunde. Das ist eine abgemachte Sache.«
»Jawohl. Wir gehen nach Rußland. und werden Perm passieren.. wo Ihr Vater wohnt, wenn ich nicht irre.« »Und ich sehe Sie nicht ohne Bedauern und ohne Neid dahin abreisen!«
»Herr Sergius,« sagte Cornelia, »gedenken Sie noch lange in Amerika zu bleiben?«
»Lange?. Ich weiß es kaum.«
»Und welchen Weg werden Sie einschlagen, wenn Sie nach Europa zurückkehren?«
»Den Weg durch den Far West. Meine Forschungsreise wird mich unfehlbar in die Nähe von New-York führen und dort werde ich mich mit Kayette einschiffen.«
»Mit Kayette!« murmelte Jean mit einem Blick auf die junge Indianerin, welche den Kopf senkte.
Ein sekundenlanges Schweigen entstand. Dann begann Herr Cascabel mit unsicherer Stimme:
»Hören Sie, Herr Sergius. ich werde mir erlauben, Ihnen einen Vorschlag zu machen. Oh, ich weiß wohl, daß die Reise durch jenes verteufelt große Sibirien sehr beschwerlich sein wird. Aber mit Mut und Willenskraft.«
»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »seien Sie versichert, daß mich weder Gefahren noch Anstrengungen erschrecken und daß ich sie gern mit Ihnen teilen würde, wenn.«
»Warum sollten wir die Reise nicht zusammen beenden?« fragte Cornelia.
»Wie nett das wäre!« fügte Xander hinzu.
»Ich würde Ihnen einen Kuß geben, wenn Sie Ja sagten!.« rief Napoleone.
Jean und Kayette sprachen kein Wort und ihre Herzen pochten heftig.
»Mein lieber Cascabel,« sagte Herr Sergius, nachdem er einige Sekunden nachgedacht, »ich möchte Sie und Ihre Frau um eine Unterredung bitten.«
»Wir stehen zu Diensten. sofort.«
»Nein. morgen,« antwortete Herr Sergius.
Daraufhin suchte jedermann, sehr unruhig und sehr gespannt zugleich, sein Lager auf.
Worüber wünschte Herr Sergius eine Unterredung zu haben? Dachte er seine Pläne zu ändern, oder wollte er die Familie nur in den Stand setzen, ihre Reise unter günstigeren Bedingungen anzutreten, indem er sie zwang eine kleine Geldsumme von ihm anzunehmen?
Jean und Kayette schlossen die ganze Nacht kein Auge.
Am folgenden Morgen fand die Unterredung statt. Nicht aus Mißtrauen gegen die Kinder, sondern aus Furcht, von den Eingeborenen oder anderen Leuten, welche ein- und ausgingen, belauscht zu werden, hatte Herr Sergius Herrn und Frau Cascabel gebeten, ihn in einige Entfernung von dem Lager zu begleiten. Ohne Zweifel war das, was er ihnen zu sagen hatte, etwas Wichtiges, das geheim bleiben sollte.
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