Am Nachmittage des siebenten passierte die Belle-Roulotte eine Furt des Stekin-River, eines kleinen Flusses, der sich in einen engen Meeresarm zwischen dem Festlande und der Baranow-Insel, nur mehr wenige Meilen weit von Sitka ergießt.
Abends vermochte der Verwundete einige Worte hervorzubringen.
»Mein Vater. da unten. wiedersehen!« murmelte er.
Da diese Worte auf russisch gesagt worden, verstand Herr Cascabel sie vollkommen.
Auch wurde ein Name mehrmals wiederholt: »Ivan. Ivan.«
Ohne Zweifel war das der Name des unglücklichen Dieners, der an der Seite seines Herrn ermordet worden.
Sehr wahrscheinlich waren beide von moskowitischer Herkunft.
Wie dem auch sein mochte, da der Verwundete Sprache und Erinnerung wiederzugewinnen begann, so würde die Familie Cascabel bald seine Geschichte erfahren.
An jenem Tage war die Belle-Roulotte an den Rand des engen Kanals gelangt, über welchen man setzen muß, um die Baranow-Insel zu erreichen.
Folglich mußte man sich an die Schiffer wenden, die den Dienst auf jenen zahlreichen Meerengen versehen.
Nur konnte Herr Cascabel nicht hoffen, mit den Bewohnern des Landes in Berührung zu treten, ohne seine Nationalität zu verraten. Es stand zu befürchten, daß die ärgerliche Paßfrage von neuem auftauchen werde.
»Nun,« sagte er, »unser Russe wird darum doch nach Sitka gelangen!
Wenn die Polizisten uns zwingen, an die Grenze zurückzugehen, so werden sie doch wenigstens ihn als einen ihrer Landsleute dabehalten; und da wir den Anfang damit gemacht haben, ihn zu retten, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn nicht zum Schlusse heilten!«
Eine Anschauungsweise, die ihr Gutes hatte, die aber doch nicht verfehlte, die Familie betreffs des ihrer harrenden Empfanges zu beunruhigen. Es wäre eben grausam gewesen, Sitka zu erreichen und dann doch den Weg nach New-York einschlagen zu müssen.
Während der Wagen am Ufer des Kanals harrte, war Jean gegangen, sich nach der Fähre und den Schiffern zu erkundigen, mit deren Hilfe der Übergang bewerkstelligt werden sollte.
In diesem Augenblicke kam Kayette, Herrn Cascabel zu melden, daß seine Frau seiner bedürfe.
Er begab sich sofort zu ihr.
»Unser Verwundeter ist bei voller Besinnung,« sagte Cornelia. »Er spricht, Cäsar, und du mußt zu verstehen suchen, was er will.«
In der That hatte der Russe die Augen geöffnet, blickte um sich und musterte fragend die Personen, die er zum erstenmale in seinem Leben sah. Hin und wieder fielen unzusammenhängende Worte von seinen Lippen.
Endlich rief er mit schwacher, kaum vernehmlicher Stimme nach seinem Diener Ivan.
»Mein Herr,« sagte Herr Cascabel, »Ihr Diener ist nicht hier, aber wir sind da.«
Auf diese französisch gesprochenen Worte antwortete der Verwundete in derselben Sprache:
»Wo bin ich?«
»Bei Leuten, welche Sie gepflegt haben, mein Herr.«
»Aber das Land?.«
»Es ist ein Land, in dem Sie nichts zu befürchten haben, falls Sie Russe sind.«
»Russe. ja. Russe.«
»Nun denn, Sie sind in der Provinz Alaska, wenige Meilen von der Hauptstadt.«
»Alaska!« murmelte der Verwundete.
Und es zuckte etwas wie Schrecken durch seinen Blick.
»Auf russischem Boden!.« flüsterte er.
»Nein!. Auf amerikanischem Boden!«
Jean trat eben ein; er war es, der es sagte.
Und dabei wies er durch das offene Fensterchen der Belle-Roulotte auf das Sternenbanner, das von einem Wachthause an der Küste wehte.
In der That war die Provinz Alaska seit drei Tagen nicht mehr russisch. Vor drei Tagen war der Annexionsvertrag unterzeichnet worden, der sie den Vereinigten Staaten einverleibte. Künftighin hatte die Familie Cascabel nichts mehr von russischen Beamten zu fürchten. Sie befand sich in einem amerikanischen Lande.
Sitka, Neu-Archangel, inmitten der Inselgruppen an der Westküste auf der Baranow-Insel gelegen, ist nicht nur die Hauptstadt dieses Eilands, sondern auch die Hauptstadt der ganzen, an die Bundesregierung abgetretenen Provinz. Es ist die einzige ansehnliche Stadt in jener Region, wo man höchst selten Marktflecken oder unbedeutende Dörfer in weiter Entfernung von einander trifft. Es wäre sogar richtiger, diese Dörfer einfach Wachtposten oder Faktoreien zu nennen. Sie gehören zumeist den amerikanischen Gesellschaften, hie und da auch der englischen Hudsonbaigesellschaft an. Man kann sich denken, daß der Verkehr zwischen diesen Posten sehr schwierig ist, besonders während der strengen Jahreszeit, wo der alaskische Winter seine Stürme entfesselt.
Noch vor einigen Jahren war Sitka bloß ein wenig besuchtes kommerzielles Centrum, wo die russisch-amerikanische Handelsgesellschaft ihre Pelzniederlagen hatte. Aber dank den Entdeckungen, welche in dieser in die Polarzone hineinreichenden Provinz gemacht worden sind, hat Sitka einen bedeutenden Aufschwung genommen und verspricht unter der neuen Verwaltung eine reiche, dieses neuen Staates der Union würdige Stadt zu werden.
Schon damals besaß Sitka alle jene Gebäude, welche zu einer sogenannten »Stadt« gehören: einen lutherischen Tempel, sehr einfach gebaut, dessen architektonische Anordnung aber etwas majestätisches an sich hat; eine griechische Kirche mit einer jener Kuppeln, welche nicht recht zu diesem nebligen, von dem Firmamente des Orients so grundverschiedenen Himmel passen; einen Klub, die »Club-Gardens«, eine Art Tivoli, wo Stammgäste wie Reisende Restaurants, Cafes, Bars und verschiedene Spiele finden, ein »Club-House«, dessen Pforten nur Junggesellen offen stehen; eine Schule, ein Spital und schließlich Häuser und pittoresk auf den umliegenden Hügeln gruppierte Villen und Cottages. Den Horizont des Ganzen bildet ein weiter, immergrüner Fichtenwald und jenseits desselben eine Linie hoher Berge, deren Gipfel sich im Nebel verlieren und von dem auf der Crouze-Insel befindlichen Mount Edgcumbe beherrscht werden, der in einer Höhe von achttausend Fuß über den Meeresspiegel emporragt.
Obgleich Sitka unter dem sechsundfünfzigsten Breitegrade liegt, ist sein Klima nicht sehr rauh und sinkt das Thermometer selten unter sieben bis acht Grad Celsius herab; hingegen verdient es, als eine Wasserstadt ersten Ranges bezeichnet zu werden. In der That regnet es auf der Baranowinsel sozusagen immer, wenn es nicht gerade schneit. Man wird es demnach nicht erstaunlich finden, daß die Belle-Roulotte, nachdem sie mit ihrem sämtlichen Personal und Material auf einer Fähre über den Kanal geschafft worden war, ihren Einzug in Sitka in strömendem Regen hielt. Und dennoch dachte Herr Cascabel nicht daran, sich zu beklagen; war er doch gerade zu einer Zeit eingetroffen, wo er die Stadt ohne jedweden Paß betreten durfte.
»Ich habe während meines Daseins viel Glück gehabt, aber niemals ein so außerordentliches,« sagte er wiederholt. »Wir standen vor der Pforte, ohne hinein zu können, und da thut sich diese Pforte angelweit vor uns auf!.«
Soviel ist gewiß, daß der Abtretungsvertrag genau zur rechten Zeit unterfertigt worden war, um der Belle-Roulotte den Übertritt über die Grenze zu gestatten. Auf dem amerikanisch gewordenen Boden gab es keine störrigen Beamten, keine jener Formalitäten mehr, welche die moskowitische Regierung so gebieterisch fordert.
Und jetzt wäre es ganz einfach gewesen, den Russen entweder in ein Spital, wo es ihm nicht an Pflege fehlen würde, oder aber in einen Gasthof zu bringen, wo der Arzt ihn besuchen konnte. Aber als Herr Cascabel ihm davon sprach, antwortete er:
»Ich fühle mich wohler, mein Freund, und wenn ich Ihnen nicht zur Last falle.«
»Zur Last, mein Herr!« antwortete Cornelia. »Was fällt Ihnen ein!«
»Sie sind hier zu Hause,« fügte Herr Cascabel hinzu, »und wenn Sie glauben.«
»Nun, ich glaube, es wäre besser für mich, bei denen zu bleiben, die mich aufgenommen. mich hingebend gepflegt haben.«
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