Ganz wie Texas längst Farmen mit einer Million Hektar hat, trifft man deren auch in Californien mit einer Bodenfläche von zwölfhundert Quadratkilometern.
Jedenfalls mußten es reiche und sehr pressierte Leute sein, da sie sich den Luxus eines Sonderzuges gestattet hatten, wo ihnen doch die regelmäßigen Züge der Southern Pacificbahn zur Verfügung standen. Das hätte ihnen kaum einen halben Tag Verzögerung gekostet und nicht mehrere tausend Dollars, die sie nicht geglaubt hatten, sparen zu sollen.
Jedenfalls brauste die Locomotive unter Volldampf dahin, und da auf dieser Linie nicht so viel Züge verkehren, hatte man den Extrazug leicht einschieben können. Ueberdies handelte es sich dabei nur um eine verhältnißmäßig kurze Strecke auf der Seitenlinie, die, von Beno ausgehend, über Carson City, die Hauptstadt von Nevada, führt, bei der Station Bentom die Grenze des Staates Californien überschreitet und an der Station Keeler endigt – das sind etwa zweihundertvierzig Meilen (386 Kilometer), die in sechs bis sieben Stunden zurückgelegt werden konnten.
Das erfolgte denn auch in diesem Zeitraume und ohne daß ein Unfall die geringste Verzögerung herbeiführte.
Um elf Uhr des Vormittags stieß die Locomotive, eine Viertelmeile (400 Meter) vor dem Bahnhofe von Keeler, wo sie halten sollte, die letzten Dampfwolken hervor.
Zwei Männer sprangen auf den Bahnsteig; sie führten nur das nothwendigste Gepäck, einen Reisesack und eine offenbar noch gar nicht angegriffene Proviantkiste mit sich. Jeder trug außerdem eine größere Handtasche und einen umgehängten Carabiner. Der eine von ihnen trat an die Locomotive heran und sagte zu deren Führer: »Warten Sie hier!« als ob er mit einem Kutscher spräche, dessen Wagen man für kurze Zeit verläßt, um einen Besuch zu machen.
Der Führer nickte zustimmend und beeilte sich, seinen Zug auf ein Nebengeleise zu bringen, um den Verkehr nicht zu stören.
Der Reisende begab sich dann mit seinem Begleiter zum Ausgange des Bahnhofes und traf hier auf ein Individuum, das ihn offenbar erwartet hatte.
»Ist der Wagen da? fragte er kurz und bündig.
– Seit gestern.
– Und gut im Stande?
– Vollkommen.
– So fahren wir ab!«
Eine Minute später saßen die beiden Reisenden schon bequem in einem eleganten, von kräftiger Maschine getriebenen Automobil, das schnell in der Richtung nach Osten davonrollte.
Der Leser hat in den beiden Reisenden sicherlich schon den Commodore Urrican und dessen getreuen Turk erkannt, obwohl beide jetzt keine Gelegenheit gefunden hatten, ihrem Jähzorn die Zügel schießen zu lassen. Der Führer des Sonderzuges hatte diesen ja zur vorausbestimmten Stunde nach dem Endbahnhofe gebracht, und der des Automobils war in Keeler richtig zur Stelle.
Welches Wunder war aber geschehen, daß Hodge Urrican, der am 25. Mai halb todt nach dem Postamte von Key West geschafft worden war, acht Tage darauf in der kleinen californischen Stadt, fast fünfzehnhundert Meilen von Florida, schon wieder auftauchte?… Unter welch ganz außergewöhnlichen Umständen mochte er die Reise hierher in so kurzer Zeit ausgeführt haben? Und wie kam es endlich, daß der sechste, von so teuflischem Unglück verfolgte Partner, der kurz vorher die Fahrten gar nicht mehr fortsetzen zu können schien, entschlossener als je war, die Partie mit auszuspielen?
Der Leser wird sich erinnern, daß der Schiffbrüchige von der »Chicola«, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, nach dem Telegraphenbureau von Key West befördert worden war. Die an demselben Morgen von Chicago abgegangene Depesche war hier genau zu Mittag eingetroffen. Doch welch beklagenswerthe Mittheilung brachte sie!… Ein unglücklicher Wurf… fünf durch zwei und drei Augen!
Infolge dieses Würfelfalles hatte sich der Commodore vom dreiundfünfzigsten nach dem achtundfünfzigsten Felde, von Florida nach Californien, zu begeben, dabei aber das ganze Gebiet der Union von Südosten nach Nordwesten zu durchmessen. Und – eine noch schlimmere Zugabe – das war das Feld des Todes, das William I. Hypperbone für diesen Staat bestimmt hatte, das Death Valley, nach dem sich der Partner persönlich zu begeben hatte und von wo er, nach Erlegung des dreifachen Einsatzes, gar noch nach Chicago zurückkehren mußte. Das alles, nachdem er zu Anfang einen solchen Meistersprung ausgeführt hatte!
Als Hodge Urrican endlich mit Hilfe kräftiger Abreibungen und nicht minder kräftiger Arzneien ins Leben zurückgerufen worden war und den Inhalt des Telegrammes erfuhr, wurde er so erregt, daß er den schrecklichsten Zornesausbruch erlitt, den Turk je an ihm beobachtet hatte. Das brachte ihn aber wieder auf die Füße.
Glücklicherweise befand sich unter den anwesenden Personen keine, an der der Commodore seine Wuth hätte auslassen können, und auch Turk bot sich keine Gelegenheit, ihn an Heftigkeit zu überbieten.
Hodge Urrican stieß nur ein Wort hervor, ein einziges, eines jener Schlagwörter, die einen historischen Werth bekommen:
»Abreisen!«
Ein eisiges Stillschweigen antwortete ihm. Turk mußte seinem Herrn erst mittheilen, wo und in welchem Zustande er sich befand. Da erfuhr dieser denn – wovon ihm jede Erinnerung fehlte – von dem Schiffbruche der Goelette, der Ueberführung ihrer Passagiere und Mannschaften nach Key West, wo kein einziges Schiff lag, das nach einem der Häfen von Alabama oder Louisiana hätte absegeln können.
Hodge Urrican war wie Prometheus an seinen Felsen geschmiedet, und auch sein Herz war bedroht, von dem Geier der Ungeduld und der… Ohnmacht verzehrt zu werden.
In den ihm zugestandenen nächsten vierzehn Tagen sollte er sich ja von Florida nach Californien und von hier auch noch nach Illinois begeben haben.
Das Wort »unmöglich« giebt es aber in allen Sprachen, selbst in der amerikanischen, obwohl man allgemein annimmt, daß die wagemuthigen Yankees es aus ihrem Wörterbuche ausgemerzt hätten.
Als er sich nun die Folgen davon vorstellte, daß die Partie für ihn verloren war, weil er Key West nicht am ersten Tage wieder verlassen konnte, verfiel Hodge Urrican einer zweiten Krisis und wetterte, schimpfte und drohte, daß im Postamte alle Scheiben klirrten. Turk gelang es jedoch, seine Wuth einigermaßen zu dämpfen, indem er sich noch gewaltthätiger geberdete, so daß sein Herr ihn zur Ruhe verweisen mußte.
Eine grausame Zwangslage und eine grausame Verletzung der Eigenliebe eines Partners blieb es aber doch, sich von dem Wettkampfe zurückziehen zu müssen, und für die orangefarbene Flagge, sich vor der violetten, der indigoblauen, der blauen, grünen, gelben und rothen Flagge zu sinken.
Ja, auf dieser niederen Welt giebt es nun einmal Glück und Unglück überall. Die guten und die schlechten Lose reiben sich im Menschenleben und folgen einander oft mit elektrischer Geschwindigkeit. Hier sollte aber, wie durch ein Eingreifen der Vorsehung, die fast verzweifelte Lage des Commodore doch noch eine Wendung zum Besseren erfahren.
Um zwölf Uhr siebenunddreißig Minuten signalisierte der Semaphor von Key West ein Schiff in fünf Meilen Entfernung auf offener See.
Die vor dem Telegraphenbureau angestaute Menge von Neugierigen strömte nun, und Hodge Urrican an der Spitze, nach einer Anhöhe mit weiter Aussicht aufs Meer.
In der angegebenen Entfernung zeigte sich wirklich ein Schiff, ein Dampfer, der am Horizonte jetzt eine lange, dunkle Rauchsäule nachschleppte.
Da wurde es lebendig unter der Menschenmenge.
»Wird das Schiff denn auch Key West anlaufen?
– Und wenn das der Fall ist, wird es hier liegen bleiben oder noch heute weiterdampfen?
– Selbst wenn es weitergeht, wird es dann nach einem Hafen von Alabama, des Mississippi oder von Louisiana, nach New Orleans, Mobile oder Pensacola steuern?
– Ja, und wenn es seinen Curs auch nach einem dieser Häfen richtet, wer weiß, ob es schnell genug läuft, um die Ueberfahrt dahin in achtundvierzig Stunden zu vollenden?«
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