Eine Beute ihrer quälenden Gefühle und in ihre Gedanken vertieft, saß Lissy Wag in einer Ecke des Coupés, und Jovita Foley, die dicht neben ihr Platz genommen hatte, unterließ es, ihre Gefährtin durch hier unangebrachtes Geplauder zu stören.
Von Saint-Louis nach Richmond rechnet man nur siebenhundert Meilen (1120 Kilometer) durch Missouri, Kentucky und West-und Ostvirginien. Am Morgen des 14. erreichten die beiden jungen Mädchen also Richmond, wo sie das nächste Telegramm des Notar Tornbrock abwarten sollten. Andererseits wissen wir, daß Max Real beschlossen hatte, Saint-Louis nicht eher zu verlassen, als bis der Ausfall des Würfelns am 20. bekannt geworden wäre, da er sich an den Gedanken klammerte, Lissy Wag vielleicht begegnen zu können, wenn er sich nach Philadelphia begab, um dort an Tom Crabbe’s Stelle zu treten.
Man kann sich wohl leicht die Freude der beiden Freundinnen vergegenwärtigen – eine Freude, die bei der einen gewiß lebhaft, aber doch still, bei der anderen laut und demonstrativ zu Tage trat – als sie gleich bei ihrer Ankunft aus den Richmonder Tageszeitungen die Befreiung Max Real’s erfuhren.
»Siehst Du nun, meine Liebe, erklärte Jovita Foley vor Aufregung zitternd, es giebt doch einen Gott! – Manche Leute behaupten ja, es gebe keinen!… Diese Thoren! Wenn es keinen gäbe, würden für Tom Crabbe wohl jemals diese fünf Augen gefallen sein?… Nein! Die Vorsehung weiß schon, was sie thut, und wir müssen ihr dankbar sein…
– Von ganzem Herzen! vollendete Lissy Wag, die in tiefster Erregung war, die Worte ihrer Gefährtin.
– Das Glück des einen ist freilich oft genug das Unglück des anderen, fuhr Jovita Foley fort. Ich habe mir auch schon immer gedacht, daß es auf Erden nur eine gewisse Summe von Glück für die Menschen giebt, und daß sich jeder sein Theil davon zum Nachtheil des anderen aneignet!«
Das merkwürdige Mädchen erging sich jetzt gar in philosophischen Betrachtungen! Wenn es in dieser niederen Welt aber auch nur eine gewisse Summe von Frohsinn giebt, dann ließ sie, die einen Löwenantheil davon in Anspruch nahm, anderen gewiß wenig übrig.
»Da sitzt also nun, schwätzte sie weiter, Tom Crabbe an Stelle Max Real’s im Gefängniß!… Meiner Treu, desto schlimmer für ihn, wenn ihn der Commodore Urrican nicht etwa noch ablöst. Wenn es aber dazu käme, möchte ich der Marinebombe wahrlich nicht in den Weg laufen!«
Vorläufig galt es nun, den 20. geduldig abzuwarten. In den sechs Tagen bis dahin mußte ja die Zeit recht angenehm verlaufen, wenn die Freundinnen sich die große Stadt Richmond ansahen, deren Schönheit Max Real so warm gepriesen hatte. Noch schöner wäre sie in ihren Augen freilich gewesen, wenn der junge Maler sie bei ihren Ausgängen begleitet hätte. So äußerte sich wenigstens Jovita Foley, und Lissy Wag mochte wohl derselben Meinung sein.
Im Hôtel verweilten die beiden so wenig wie möglich. Dadurch entgingen sie den Interviewers der virginischen Zeitungen, die die Anwesenheit der fünften Partnerin in Richmond mit lautem Trommelschlag verkündet hatten. Zum größten Verdruß Lissy Wag’s hatten einige Zeitungen sogar ihr Porträt und das Jovita Foley’s gebracht, was »ihrem zweiten Ich«, wie die Leute sagten, dagegen großen Spaß machte. Und war das nicht erklärlich gegenüber dem Interesse, das ihnen bei ihren Spaziergängen bewiesen wurde?

So flogen die Stunden nur zu schnell dahin im Salon. (S. 445.)
Gewiß! Wie begrüßten alle Leute die beiden reichen Erbinnen, seit ihnen kein anderer voraus war, als der räthselhafte X. K. Z., an dessen Existenz die meisten übrigens gar nicht glauben wollten. Jetzt war Lissy Wag in den Wettbureaus und auf den Märkten der Union die, die am dringendsten verlangt wurde.
»Ich nehme Lissy Wag!
– Ich biete Kymbale gegen Lissy Wag an!
– Ich Titbury!
– Wer will Titbury haben?
– Hier ist Titbury…
– Und Tom Crabbe gleich packetweise!
– Wer hat noch Real?
– Wer hat Lissy Wag abzugeben?«
Etwas anderes hörte man gar nicht mehr, und man kann sich daher wohl vorstellen, welche Summen in den Vereinigten Staaten wie im Auslande auf den Sieg der fünften Partnerin verwettet sein mochten. Durch zwei glückliche Würfe konnte sie das Ziel erreichen und damit, selbst bei einer Theilung mit ihrer treuen Gefährtin, im Lande der Dollars eine der reichsten Erbinnen werden, die im Goldenen Buche Amerikas eingetragen sind.
Als der 16. Juni herankam, hatten einige Interessenten, da der noch für einen Monat im prächtigen Excelsior Hotel zurückgehaltene Hermann Titbury nicht in Frage kommen konnte, wie wir wissen, beantragt, daß das nächste Auswürfeln für den vierten Partner, Harris T. Kymbale, gelten und überhaupt jede weitere »Ziehung« um achtundvierzig Stunden früher verlegt werden sollte. Dem stimmten aber weder Georges B. Higginbotham. noch die anderen Mitglieder des Excentric Club und ebensowenig Meister Tornbrock zu, denen es ja oblag, die Absichten des Verstorbenen zu interpretieren.
Am 18. wurde der Hauptberichterstatter der »Tribune« bekanntlich von Olympia nach Yankton geschickt, und schon am darauffolgenden Tage meldeten die Zeitungen, daß er die Hauptstadt Washingtons auf der Ueberlandlinie der Northern Pacific verlassen habe.
Durch seine Versetzung vom dreißigsten nach dem neununddreißigsten Felde bedrohte er übrigens Lissy Wag, die das vierundvierzigste besetzt hatte, in keiner Weise.
Am 20. endlich fand sich Jovita Foley, die ihre Freundin zum Mitgehen gezwungen hatte, schon vor acht Uhr im Postamte von Richmond ein. Eine halbe Stunde später kam auf dem Drahtwege die Meldung: zwölf, durch sechs und sechs, die höchste Augenzahl, die die Würfel ergeben konnten. Das bedeutete einen Fortschritt um zwölf Felder, durch den sie aus dem vierundvierzigsten nach dem sechsundfünfzigsten Felde, dem Staate Indiana, kamen.
Die beiden Freundinnen kehrten eiligst in ihr Hôtel zurück, um den stürmischen Demonstrationen der Leute zu entgehen.
»O, meine Beste! jubelte Jovita auf, Indiana und seine Hauptstadt Indianopolis!… Nein, kann man wirklich so viel Glück haben! Damit nähern wir uns unserem Illinois, jetzt stehst Du an der Spitze und hast diesen Eindringling, den X. K. Z., um fünf Felder überholt und die gelbe Flagge besiegt die rothe! Nur noch sieben Punkte sind nöthig, um zu triumphieren! Und warum sollte die Zahl sieben nicht herauskommen? Es ist doch die der Arme des biblischen Leuchters, die der Tage der Woche… die der Plejaden… (die der Todsünden, wagte sie nicht zu sagen)… und die der Partner, die um die Erbschaft kämpfen! O Gott, mache, daß für uns sieben Augen geworfen werden und daß wir die Partie gewinnen!… Wenn Du wüßtest – doch Du mußt es ja wissen – welch guten Gebrauch wir von den Millionen machen würden… wie wir zu Wohlthätern der ganzen Welt werden wollten!… Wir gründeten Pflegehäuser für Alte, Arbeitsstätten, ein Krankenhaus… ja, das Lissy Wag-Stift für die Kranken Chicagos, wie eine leuchtende Inschrift verkünden müßte. Und ich selbst, ich errichtete noch ein Stift für Mädchen, die aus Mangel an Mitgift nicht heirateten, und ich wäre die Leiterin darin… o, Du solltest sehen, wie ich mich als solche bewährte!… Du natürlich, Du würdest in das Stift nicht eintreten, Fräulein Milliardärin, da… nun ja… ich weiß schon!… Uebrigens werden sich Herzöge, Marquis und Prinzen um Deine Hand streiten!«
Offenbar delirirte Jovita Foley nicht wenig. Sie preßte Lissy Wag in die Arme, die alle diese Zukunftsträume mit leichtem Lächeln hinnahm, und dann drehte sie sich um sich herum und wirbelte umher wie der Kreisel unter der Peitsche des Kindes.
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