San Francisco bei Nacht war nicht minder laut und betriebsam als bei Tag, nur auf eine andere Art.
Tagsüber erfüllte die Stadt der Lärm des Hafens. Er zog mit den Menschen, die von den fast stündlich einlaufenden Schiffen kamen, bis auf die zahlreichen Hügel, die San Francisco mit Häusern und Straßen überzogen hatte.
Der Lärm goldhungriger Menschen, die sich mit Unterkunft, Verpflegung, einer Goldgräberausrüstung und vor allen Dingen mit Informationen darüber versorgen mußten, wo sie die aussichtsreichsten Diggings fanden. Es war der Lärm von Verhandlungen, Fragen, Antworten, Angeboten, Geschäften.
In der Nacht aber schwang sich der ausgelassene Lärm der Vergnügungen zum König über die Stadt am Golden Gate auf.
Gejohle und Gelächter, Musik und Gesang. Laute Stimmen, die nach einem Whiskey brüllten, sich über einen Gewinn beim Monte freuten oder über einen Verlust beim Faro klagten.
Sie drangen aus den großen, von Kronleuchtern erhellten Vergnügungspalästen am Portsmouth Square und aus den kleinen düsteren und schmutzigen Kaschemmen und Spelunken in Barbary Coast oder Sidney Town.
Sie waren Ausdruck des Bedürfnisses nach lautem, grellen Vergnügen, das die hart schuftenden Menschen erstrebten, mochten sie nun Seemänner oder Schauerleute, Barbiere oder Eisenwarenhändler sein.
Oder Goldgräber.
Der neue Goldrausch, der Kalifornien seit fast zwei Jahren gepackt hielt, ließ sie über Land und See in den großen Staat an Nordamerikas Westküste strömen. All jene, die mit dem gelben Metall ihr Glück zu machen hofften. Von diesem glänzenden Metall lebten fast sämtliche Menschen in der Stadt, auch Barbiere oder Eisenwarenhändler. So waren sie alle, jeder auf seine Art, Goldgräber, im Großen oder im Kleinen.
Der Bezirk San Franciscos, wo neben dem Zentrum am Portsmouth Square und der Vielzahl an Lasterhöhlen in Barbary Coast am meisten nächtliches Leben herrschte, war Chinatown.
Durch die engen Gassen der Chinesenstadt drängten sich nicht nur die langbezopften Asiaten in ihrer geschäftigen, seemannsähnlich wackelnden Gangart, sondern auch jede Menge Amerikaner und Angehörige anderer Nationalitäten. Sie suchten die speziellen Vergnügungen, für die Chinatown berühmt war, in den rauchgeschwängerten Opiumhöhlen und den parfümerfüllten Häusern der Freude.
Aber auch die vielen Werkstätten und Geschäfte, die meistens in den Erdgeschossen der mit kleinen Balkons und allerlei Zierat geschmückten Häuser lagen, waren nach Mitternacht noch hell erleuchtet. Aus den Werkstätten von Schustern und Juwelieren drang unentwegtes Gehämmer nach draußen, um sich mit dem heiteren Lärm der vergnügungssüchtigen Nachtschwärmer zu vermischen. Aus den Wäschereien zog dichter Dampf ab und aus den Restaurants exotische Düfte.
Das unterschied Chinatown von allen übrigen Vierteln der großen Stadt. Dort gehörte die Nacht allein Lust und Laster. Die fleißigen Chinesen aber schienen rund um die Uhr zu arbeiten, als benötigten sie keinen Schlaf. Dem unkundigen Besucher mußte das wie ein Wunder erscheinen. Die Lösung des Rätsels war, daß in Chinatown fast jede Wohnung und jeder Laden gleich von mehreren Parteien gemietet wurde. Die Chinesen arbeiteten, aßen und schliefen in Schichten, und jeder Platz war vierundzwanzig Stunden besetzt.
So fiel auch der mit Fässern beladene Kastenwagen nicht groß auf, der in der Nacht auf den vierten März des Jahres 1864, vom Stadtzentrum kommend, in den Randbezirk von Chinatown einfuhr. Die Chinesenstadt benötigte einen ständigen Zustrom von Waren aller Art, um ihre Menschen, Bewohner wie Besucher, auf jede nur erdenkliche Art zu sättigen. Die Fässer mochten Whiskey oder Rum enthalten, Bier oder Sirup, Lampenöl oder Reinigungsmittel für die Wäschereien. Wichtig war es nur für Lieferanten und Empfänger, dachten zufällige Beobachter, und scherten sich nicht weiter um den Wagen.
Sie hätten ganz anders gedacht, hätten sie gewußt, daß die beiden Männer, die mit nur scheinbar gleichgültigen Gesichtern auf dem Kutschbock saßen, das Verhängnis nach Chinatown brachten.
Der Kutscher ließ die beiden plumpen Zugpferde bei einem dunklen Lagerhaus halten. Er hatte die Bremse noch nicht festgezogen, da war sein Begleiter schon in den Schmutz der unbefestigten Straße gesprungen. Der kleine untersetzte Mann mit dem abstoßenden Rattengesicht eilte davon, schob die speckige Melone in den Nacken und blieb an jeder Seite des großen Gebäudes stehen, um sich sorgfältig umzusehen und in die Nacht hineinzulauschen.
Gelächter und Musik drangen nur schwach zu ihm herüber. Der Wind wehte aus der Richtung, aus der die beiden Männer mit dem Wagen gekommen waren. Wichtig war, er wehte nach Chinatown hinein!
Befriedigt stellte der hellhaarige Kundschafter fest, daß nichts den Plan störte. Das Lagerhaus war einsam und verlassen, wie es der Hai vermutet hatte.
Es war auch kaum anders zu erwarten gewesen. Der Hai von Frisco täuschte sich nie. Nur deshalb hatte er innerhalb weniger Monate die halbe Stadt unter seine dunkle Herrschaft zwingen können.
Und in dieser Nacht schickte er sich an, auch die andere Hälfte zu übernehmen!
»Wie sieht's denn aus, Louis?« fragte der bullige, gedrungene Al Winkler auf dem Kutschbock.
Wegen seiner baumstammartigen Arme und Beine nannten seine Gefährten den deutschstämmigen Mann in Anlehnung an die massive deutsche Eiche >Eichen-Al<.
»Rund um das alte Lagerhaus ist es so finster wie das Wasser im Hafen oder die Hinterhöfe von Barbary Coast«, grinste Louis Bremers Rattengesicht. »Kein Langzopf weit und breit.«
Winkler stieß ein befriedigtes Knurren aus und lobte die Voraussicht des Hais.
Bremer nahm die große Blendlaterne von der Halterung vorn am Wagen.
Viele Wagen, die nachts unterwegs waren, beleuchteten den Weg mittels einer Laterne. Die unbefestigten Straßen mit den großen tiefen Schlaglöchern ließen es angeraten erscheinen.
Schon manches Pferd war in ein solches Loch gefallen. Mancher Wagen war dabei zersplittert. Mancher Mann und manche Frau hatten sich dabei Arm, Bein oder auch das Genick gebrochen.
Eine andere beliebte Methode zur Erhöhung der nächtlichen Verkehrssicherheit war es, leichtfüßige Straßenjungs anzuheuern, die vor den Wagen herliefen. Aber bei der heutigen Mission wollte Bremer keine Halbwüchsigen dabeihaben. Nur ganze Männer, auf die er sich verlassen konnte.
Der kleine Mann hielt die Laterne hoch, bis sie fast mit seinem seltsam keilförmigen Kopf auf einer Höhe war, und schwenkte sie fünfmal hin und her. Der helle Lichtschein, der durch die mattglasige Vergrößerungslinse fiel, verlor sich irgendwo in der Finsternis zwischen Lagerschuppen und Handwerkerhäusern. Aber er war stark genug, damit die anderen das verabredete Signal sehen konnten.
Bremer täuschte sich nicht. Kaum hatte er die Laterne wieder in die Halterung am Wagen gesteckt, da hörte er auch schon den Hufschlag der Männer, die ihnen durch die Straßen der nächtlichen Stadt gefolgt waren. Sechs Reiter waren es, ausnahmslos große kräftige Männer.
Beim Wagen hielten sie an und sprangen aus den Sätteln. Einer von ihnen hielt die Tiere, die anderen scharten sich um Louis Bremer.
Der gab seine Befehle, schnell und knapp wie ein Feldherr.
Die Rückseite des Wagenkastens wurde heruntergeklappt und ein starkes Brett so zu Boden gezogen, daß es eine Rampe bildete.
Zwei Männer kletterten auf den Wagen und durchschnitten die Stricke, die aufgrund der schlechten Straßen angebracht waren, um die Fässer am Umstürzen zu hindern. Dann kippten sie das erste Faß vorsichtig um und rollten es zur Rampe, wo es von den Händen der unten stehenden Männer gepackt und sorgsam auf die Straße gerollt wurde.
»Schneller!« zischte Bremer, dem zwar die Sorgfalt der Männer gefiel, nicht aber die damit verbundene Langsamkeit.
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