Gaynor, unsere Rundfunkproduzentin, schiebt mir ein Mikrofon unter die Nase und bittet mich zu beschreiben, was wir gerade sehen.
»Was?« sage ich und fasele ein bißchen.
»Mehr«, sagte sie. »Mehr!«
Ich fasele noch ein bißchen weiter. Die Rotorblätter des Hubschraubers säbeln nur ein paar Zentimeter von einem Eisturm entfernt durch die Luft.
Sie seufzt. »Na schön«, sagt sie, »das läßt sich höchstwahrscheinlich zu irgendwas zusammenschneiden«, und schaltet das Tonband wieder aus.
Wir drehen eine weitere bewußtseinszerknüllende Runde um die riesigen Eisskulpturen und jagen dann zurück durch die Schluchten, die jetzt vergleichsweise spießig wirken.
In unserem Hubschrauber sitzt noch ein weiterer Passagier: Don Merton, ein gütiger Mann mit dem Gebaren eines Vikars, der für irgend etwas Abbitte leistet. Er sitzt ruhig da, stößt gelegentlich seine Brille auf dem Nasenrücken zurück und murmelt für sich »ja, ah, ja«, als bestätige all dies eine Vermutung, die er schon seit langem hegt. Tatsache ist, daß er das Gebiet sehr gut kennt. Er arbeitet für das New Zealand Department of Conservation und hat wahrscheinlich mehr als irgendwer sonst zum Schutz der bedrohten neuseeländischen Vogelwelt beigetragen.
Wir sind der Hunderte von Metern steil abfallende Schluchtwand neben uns wieder sehr nah, und ich entdecke, daß wir einem langen, schmalen Pfad folgen, der über eine unfaßbar schmalen Sims zu einem Felsvorsprung hinaufführt, von dem aus man einen ausgedehnteren Teil des Tal überblicken kann. Ich leide an fürchterlicher Höhenangst. Bei meinen knapp zwei Metern Länge wird mir manchmal schon beim Aufstehen schwummerig, und der bloße Anblick des Pfades beschert mir schwarze, verschwommene Alpträume.
»Da sind wir früher oft raufgestiegen«, murmelt Don und beugt sich vor, um es uns zu zeigen.
Ich sehe zuerst ihn erstaunt an und dann wieder hinunter auf den furchterregenden Pfad. Wir schweben jetzt nur einen knappen Meter über ihm, und das dumpfe Wummern der Rotorblätter hallt vom Boden wider. Der Weg ist höchstens sechzig Zentimeter breit, grasbedeckt und rutschig.
»Ja, ganz schön steil«, sagt Don mit einem leisen Lachen, als gebe es sonst keinen Grund, nicht mit dem Fahrrad raufzufahren. »Oben auf der Hügelkette ist ein ›Track and bowl system‹. Wollt ihr's euch mal ansehen?«
Wir nicken nervös, und Bill fliegt weiter.
Ich hatte schon vorher erlebt, daß sich neuseeländische Zoologen den Begriff »Track and bowl system« an den Kopf geworfen hatten, und zwar dermaßen beiläufig, daß ich nicht gleich hatte zugeben wollen, nicht den blassesten Schimmer zu haben, wovon sie eigentlich sprachen. Ich beschloß von der Prämisse auszugehen, daß es irgendwas mit Satellitenschüsseln zu tun haben müsse, und mich dann von da aus allmählich an den wirklichen Sinn heranzutasten. Dadurch schwebte ich zwei Tage lang in einem Zustand vollkommenen Nichtbegreifens, bevor ich schließlich doch den Mut fand, meine Unwissenheit zuzugeben.
Ein »Track and bowl system« hat rein gar nichts mit Satellitenschüsseln zu tun. Wenn man von einer Gemeinsamkeit absieht – nämlich, daß man beides meist an hochgelegenen, offenen Stellen findet. Es ist ein ziemlich komischer Name für ein extrem komisches Phänomen. Ein »Track and bowl system« sieht zwar nicht besonders dramatisch aus – und wenn man kein neuseeländischer Zoologe ist, könnte man glatt an einem vorbeifliegen, ohne es überhaupt zu bemerken –, ist jedoch Schauplatz einer der eigenartigsten Verhaltensweisen der gesamten Tierwelt.
Der Hubschrauber schwebt jenseits des Kamms hinaus ins Tal, wendet und nähert sich dem Kamm von der anderen Seite, gerät in den Aufwind, dreht sich noch einmal leicht – und setzt auf. Wir sind gelandet. Für einen Augenblick sitzen wir verdutzt in der Stille und können kaum glauben, auf was wir da gerade gelandet sind. Der Kamm ist nur ein paar Meter breit. Er fällt zu beiden Seiten Hunderte von Metern steil ab, und auch vor uns geht es zügig abwärts.
Bill dreht sich um und grinst uns an. »Keine Sorgen«, sagt er, obwohl ich immer geglaubt hatte, das sage man nur in Australien. In Momenten wie diesem braucht man genau diese Art Gedanken, um sich abzulenken.
Nervös klettern wir aus der Maschine und krabbeln, die Köpfe unter den wirbelnden Rotorblättern gesenkt, hinaus auf den Kamm. Um unseren Felsvorsprung herum breitet sich nach drei Seiten ein gezacktes Tal aus, dessen Umrisse weiter unten weicher werden. Direkt vor uns biegt es scharf nach links ab und setzt sich über eine ganze Reihe von schroffen Drehungen und Verwerfungen fort bis zum Tasman-See, einem dunstigen Schimmern in der Ferne. Die wenigen Wolken, die nicht weit über uns hängen, zeichnen auf ihrem langsamen Weg über das Tal dessen Wellenform mit ihren ausgefransten Schatten nach, und das allein vermittelt uns schon ein sehr deutliches Gefühl für Größenordnungen und Verhältnisse.
Mit dem Verstummen der wummernden Rotorblätter des Hubschraubers nimmt das allgegenwärtige Murmeln des Tales allmählich zu und füllt die Stille aus: das dumpfe Donnern der Wasserfälle, das entfernte Zischeln des Meers, das Rascheln des struppigen Grases in der leichten Brise, die Keas, die sich einander vorstellen. Ein Geräusch allerdings werden wir, wie wir wissen, nicht hören – nicht, weil wir zur falschen Tageszeit hergekommen wären, sondern im falschen Jahr. Und richtige Jahre wird es nicht mehr geben.
Bis 1987 war Fjordland die Heimat eines der seltsamsten, schauerlichsten Töne auf Erden. Jahrtausendelang war dieser Ton zur richtigen Jahreszeit und nach Einbruch der Dunkelheit überall in dieser wilden Gipfel- und Tälerlandschaft zu hören gewesen.
Es klang wie ein Herzklopfen: ein tiefes, kraftvolles Pochen, das in den dunklen Schluchten widerhallte. So tief, daß einige Leute behaupteten, es im Magen gespürt zu haben, bevor sie den eigentlichen Klang gehört hätten, eine Art Wummern, ein schweres Luftbeben. Die meisten Leute haben es sowieso nicht gehört und werden es auch nie mehr hören. Es war der Schrei des Kakapo, des alten neuseeländischen Nachtpapageis, der hoch auf einem Felsvorsprung saß und nach einer Gefährtin rief.
Von allen Lebewesen, nach denen wir in diesem Jahr suchten, war der Kakapo vermutlich das eigenartigste, das faszinierendste und außerdem eines der seltensten und am schwersten aufzutreibenden. Früher, bevor Neuseeland von Menschen besiedelt wurde, gab es Hunderttausende von Kakapos. Dann gab es Tausende, dann Hunderte. Dann gab es nur noch vierzig... und es ging abwärts. Hier im Fjordland, das jahrtausendelang die Hochburg des Vogels gewesen ist, scheint es heutzutage keinen einzigen mehr zu geben.
Don Merton weiß besser als sonst jemand über diese Vögel Bescheid und ist zum einen mitgekommen, um uns zu führen, zum anderen aber auch, weil dieser Flug ins Fjordland ihm die Gelegenheit bietet, ein weiteres Mal zu überprüfen, ob der letzte Kakapo unwiderruflich verschwunden ist.
Unser Hubschrauber steht in einem so schwindelerregenden Winkel auf dem Felskamm, daß es aussieht, als werde der kleinste Windstoß ihn sanft ins unter uns liegende Tal wehen. Mark und ich entfernen uns langsam und mit steifem, beklommenem Gang von ihm, als täte uns alles weh. Wir spielen jeden weiteren Schritt zunächst im Kopf durch, bevor wir es wagen, den restlichen Körper zu bewegen. Bill grinst uns, die erdverbundenen Jungs aus der Stadt, verschmitzt an.
»Keine Sorgen«, sagt er fröhlich. »Wo immer wir landen können, setzen wir auf. Don wollte hierher, also hab ich ihn hergebracht. Hätte keine Lust, hier zu sein, wenn's richtig windig wäre, aber das ist es ja nicht.« Er setzt sich auf einen kleinen Felsblock und steckt sich eine Zigarette an. »Im Moment jedenfalls nicht«, fügt er hinzu, starrt in die Ferne und malt sich glücklich aus, welchen Heidenspaß wir alle hätten, wenn plötzlich ein Orkan durchs Tal gerauscht käme.
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