Der »Findling« freilich empfand nur heftigen Widerwillen gegen Carker, wenn er ihn - den Sohn des Gehenkten! -zuweilen auch mit großen Augen voller Erstaunen betrachtete.
Im allgemeinen gleichen diese Armenschulen kaum den modernen Unterrichtsanstalten, für die der Cubikmeter Luft nach hygienischen Grundsätzen berechnet und der Raumbedarf nach der Kopfzahl bemessen ist. Zum Lager gab es Stroh, da ist das Bett bald gemacht und bedarf kaum des Aufschüttelns. Von einem Speisesaale war keine Rede, und der erschien auch überflüssig, wo man nur Brodrinden nebst einigen Kartoffeln, und auch das oft nur in unzureichender Menge, zu kauen hatte. Die Last des Unterrichtens der Lumpenschüler lag auf den Schultern des Herrn O'Bodkins. Er sollte ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen lehren, doch ohne Gewähr des Gelingens, und wenn die Kinder zwei bis drei Jahre unter seiner Zuchtruthe gestanden hatten, gab es unter ihnen kaum ein Dutzend, die einen Maueranschlag zu entziffern vermocht hätten. Obgleich einer der Jüngsten, unterschied sich der Findling jedoch sehr von seinen Kameraden durch einen regen Lerntrieb, der ihm so manche Spöttelei einbrachte. Es ist doch tief bedauerlich und social unverantwortlich, wenn ein Menschenkind, das nach geistiger Ausbildung trachtet, diese entbehren muß. Niemand vermag ja den zukünftigen Verlust durch die Brachlegung eines jungen Gehirns abzuschätzen, das die Natur vielleicht mit den besten - jetzt nicht aufgehenden -Keimen ausgestattet hatte.
Wenn die Zöglinge nun hier kaum mit dem Kopfe arbeiteten, lag das nicht etwa daran, daß sie mit Handarbeit überbürdet gewesen wären. Die tägliche Beschäftigung der Kinder bestand vielmehr nur darin, daß sie etwas Brennmaterial für den Winter aufsammelten, sich bei mitleidigen Seelen abgelegte Kleidungsstücke erbettelten und den Unrath von Pferden und andern Thieren zusammenscharrten, um diesen an die
Landleute für wenige Coppers zu verkaufen - eine Einnahmequelle, für die O'Bodkins eine besondre Rechnung führte - endlich durchwühlten sie, womöglich vor den Hunden oder im Nothfalle nach Verjagung der Vierfüßler, die Kehrichthaufen an den Straßenecken nach irgendwelchem verwendbaren oder verwerthbaren Abfall. Spiele, Unterhaltungen gab es hier nicht, wenn man es nicht als Vergnügen rechnen will, sich gegenseitig zu zerkratzen, zu kneipen und zu beißen, abgesehen von den übeln Streichen, die Grip gar häufig gespielt wurden. Der brave Bursche machte davon wenig Aufhebens; doch das reizte Carker und die andern Schlingel nur noch mehr an, ihm auf gemeinste und grausamste Weise mitzuspielen.
Das einzige einigermaßen saubere Zimmer der Lumpenschule war das des Directors, das natürlich keiner betreten durfte, denn dann wären dessen Bücher unfehlbar zerrissen, seine Schreibereien überallhin verstreut worden. Im Gegentheil gefiel es dem Manne, wenn seine Zöglinge sich draußen umhertrieben und dumme Streiche machten; ihm kamen sie, die der Hunger und die Müdigkeit in die Lumpenschule heimtrieb, doch immer zu zeitig zurück.
Bei seiner ernsteren Natur und seinen besseren Neigungen war der Findling unablässig nicht nur dem rohen Spotte, sondern auch den Gewaltthätigkeiten Carker's und eines halben Dutzend andrer preisgegeben. Er vermied es aber, sich zu beklagen.
Wenn er nur stark genug gewesen wäre! Er hätte sich schon Respect verschafft, hätte Schlag für Schlag, Fußtritt für Fußtritt zurückgegeben - jetzt freilich schwoll ihm das Herz nur vor Ingrimm, zur Selbstverteidigung zu schwach zu sein.
Gleichzeitig verließ er das Schulhaus am wenigsten, da er sich ja der Ruhe erfreute, wenn die übrigen draußen herumlungerten. Er stand sich dabei freilich schlecht, denn unterwegs hätte er ja etwas zum abnagen finden oder ein altbackenes Brödchen für zwei bis drei als Almosen erhaltene Coppers kaufen können. Ihm widerstrebte es aber, die Hand auszustrecken und hinter den Wagen herzulaufen, um ein verlorenes Geldstückchen aufzulesen, vorzüglich aber, Ladenauslagen und dergleichen zu berauben, was die andern oft genug leichten Herzens thaten. Nein, er zog es vor, bei Grip zu bleiben.
»Nun, Du willst nicht fortgehen? fragte ihn dieser.
- Nein, Grip.
- Carker wird Dich schlagen, wenn Du heut' Abend nichts heimgebracht hast.
- Da will ich mich lieber schlagen lassen!«
Grip empfand für den Findling eine warme, von diesem getheilte Zuneigung. Selbst geistig ziemlich beanlagt und geübt im Lesen und Schreiben, bemühte er sich, dem Kinde zu lehren, was er gelernt hatte. Seit seinem Verweilen in Galway zeigte der Findling auch immer weitere Fortschritte, wenigstens im Lesen, und versprach also, seinem Lehrer Ehre zu machen.
Hier sei auch nicht vergessen, daß Grip einen großen Vorrath unterhaltender Geschichten im Kopfe hatte, die er gern erzählte.
Mit seinem herzlichen Lachen in dieser düstern Umgebung kam es dem Findling vor, als verbreite der gute Grip einen Lichtstrahl in der traurigen Finsterniß.
Was unsern Helden am meisten wurmte, war, daß die andern sich immer an Grip rieben und ihm ihr Uebelwollen auf jede Weise fühlen ließen, was dieser, wie erwähnt, mit philosophischer Ruhe duldete.
»Aber, Grip!. begann der Findling zuweilen.
- Was willst Du?
- Der Carker ist doch recht schlecht!
- Gewiß, sehr ungezogen.
- Warum klopfst Du ihm nicht den Rücken?
- Ich? Klopfen?.
- Ja, und auch den andern?«
Grip zuckte mit den Schultern.
»Bist Du denn nicht stark, Grip?
- Das weiß ich nicht.
- Du hast aber doch lange Arme und Beine.«
Ja, groß war Grip wohl, doch auch hager, wie ein Blitzableiter.
»Nun also, Grip, warum prügelst Du sie nicht, die abscheulichen Kerle?
- Weil sich's nicht der Mühe lohnt.
- O, wenn ich Deine Arme und Beine hätte.
- Dann wär's besser, Kleiner, sich ihrer zum arbeiten zu bedienen.
- Meinst Du?
- Ganz gewiß.
- Nun gut, laß uns zusammen arbeiten. Sprich!. Wir versuchen's. Willst Du?«
Grip wollte das herzlich gern.
Zuweilen gingen beide aus. Grip nahm das Kind mit, wenn er etwas zu besorgen hatte. Der Findling trug freilich die erbärmlichste Kleidung, die ihm nicht einmal auf den Leib paßte; zerrissene Hosen, eine zerfetzte Jacke, eine Mütze ohne Deckel und an den Füßen Rindslederschuhe, deren Sohlen nur durch Bindfaden noch daran festgehalten wurden. Mit Grip, der auch nur das abgetragenste Zeug besaß, sah es allerdings kaum besser aus. Es waren gleiche Brüder mit gleichen Kappen. Jetzt, in der schönen Jahreszeit, ging das ja noch an. Gute Witterung ist in den nördlichen Grafschaften Irlands aber ebenso selten, wie ein gutes Essen in der Hütte Paddys. Beim Regen aber, beim Schnee erregten die beiden, halb entblößt
und erfroren, die Füße vom Schnee fast angeätzt, das Mitleid der ihnen begegnenden Leute, wenn der Große den Kleinen an der Hand führte und beide Trab liefen, um sich etwas zu erwärmen.
So trollten sie durch die Straßen von Galway, das fast einer spanischen Stadt ähnelt, oft unbeachtet von einer gleichgiltigen Menge. Der Findling hätte gar zu gern gewußt, was in den Häusern da drin wäre. Durch die engen, meist mit Gittern verwahrten Fenster mit den herabgelassenen Jalousien war freilich nichts zu entdecken. Für ihn waren diese Häuser mit Silbermünzen angefüllte Geldschränke. Und die Gasthäuser, wohin die Reisenden im Wagen angefahren kamen, wie gern hätte er in deren schöne Zimmer einmal gesehen, vorzüglich in die des Royal-Hotel! Die Dienerschaft hätte aber sicherlich beide wie Hunde fortgejagt oder, was noch schlimmer ist, wie Bettler, denn ein Hund findet noch eher einmal eine liebkosende Hand.
Und wenn sie vor den, übrigens nur mangelhaft ausgestatteten Läden der Flecken des oberen Irland stehen blieben, schienen diese den beiden unschätzbare Reichthümer zu bergen. Da warfen sie brennende Blicke auf die Auslage eines Kleiderladens, sie, die sich nur in Lappen wickeln konnten, oder durch das Fenster eines Schuhwaarengeschäfts, sie, die nur fast barfuß gingen. Der Genuß, einmal einen neuen Rock auf dem Leibe oder eigens angemessene Stiefeln an den Füßen zu tragen, blieb ihnen voraussichtlich ja für immer versagt, ebenso wie den vielen Elenden, die da verurtheilt sind, sich mit dem, was andre wegwerfen, und mit Abfällen aus der Küche zu begnügen.
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