Doch diese Studentin, Karen, war sehr attraktiv, blond, mit grünen Augen, schlank, doch athletisch, und…
“Oh”, sprach er laut in den leeren Hörsaal.
Sie erinnerte ihn an Maria.
Vier Wochen waren vergangen, seitdem Reid und seine Mädchen aus Osteuropa zurückgekehrt waren. Zwei Tage später wurde Maria auf einen weiteren Einsatz geschickt, und trotz seiner SMS und Anrufe auf ihr persönliches Handy hatte er seitdem nichts mehr von ihr gehört. Er wunderte sich, wo sie war, ob es ihr gutging… und ob sie immer noch dasselbe für ihn verspürte. Ihre Beziehung zueinander war so komplex geworden, dass es ihm schwerfiel, zu wissen, wo er stand. Eine Freundschaft, die fast romantisch wurde, dann zeitweise durch Misstrauen versauerte und sie letztendlich zu zwei Verbündeten auf der falschen Seite einer Regierungsvertuschung machte.
Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, was Maria wohl für ihn fühlte. Er hatte geschworen, zu der Verschwörung zurückzukehren, zu versuchen, mehr über das herauszufinden, was er damals wusste. Doch seitdem er wieder unterrichtete, eine neue Position in der Agentur hatte und sich um seine Mädchen kümmerte, hatte er kaum die Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
Reid seufzte und blickte wieder auf seine Uhr. Vor kurzem hatte er eine teure Smart-Uhr gekauft, die per Bluetooth mit seinem Handy verbunden war. Selbst wenn sein Telefon auf seinem Pult oder in einem anderen Zimmer lag, würde er weiterhin über SMS oder Anrufe benachrichtigt. Ständig darauf zu starren wurde so instinktiv wie Blinzeln. So zwanghaft wie das Jucken, wenn es irgendwo kratzt.
Er hatte Maya eine Nachricht geschickt, kurz bevor die Vorlesung begann. Normalerweise waren seine SMS scheinbar harmlose Fragen, wie etwa “Auf was hast du zum Abendessen Lust?” oder “Soll ich irgendwas auf dem Heimweg mitbringen?” Doch Maya war nicht dumm, sie wusste, dass er sich um sie sorgte, egal, auf welche Weise er es auch versuchte, zu verstecken. Besonders, weil er fast jede Stunde eine SMS schickte oder sie anrief.
Er war intelligent genug, um sich dessen bewusst zu sein, was hier geschah. Die Neurose wegen der Sicherheit seiner Mädchen, sein zwanghaftes Überprüfen und die darauffolgende Nervosität, während er auf eine Antwort wartete. Selbst die Stärke und der Einfluss der Flashbacks, die ihm widerfuhren. Egal, ob er bereit war, es zuzugeben oder nicht, alle Zeichen deuteten darauf hin, dass er unter einem Grad von posttraumatischer Belastungsstörung litt, nach den ganzen Qualen, die er durchgemacht hatte.
Dennoch, seine Herausforderung, das Trauma zu überwinden, wieder zu einem Leben zurückzukehren, das einer Art von Normalität glich, und zu versuchen, die Angst und Sorge über das Geschehene zu besiegen, war nichts im Vergleich zu dem, was seine Töchter gerade durchmachten.
Reid schloss die Tür zu ihrem Zuhause in der Vorstadt von Alexandria im Bundesstaat Virginia auf, balancierte eine Pizza-Schachtel auf seiner Hand und gab den sechsstelligen Alarmcode in die Schaltfläche neben der Tür ein. Er hatte das System gerade vor einigen Wochen verbessern lassen. Dieser neue Alarm sendete eine Notfallnachricht sowohl an den Rettungsdienst als auch an die CIA, falls der Code nach Öffnung einer der Ausgänge nicht binnen dreißig Sekunden richtig eingegeben wurde.
Es war eine von mehreren Vorsichtsmaßnahmen, die Reid seit dem Vorfall getroffen hatte. Es gab jetzt Kameras, drei insgesamt. Eine von ihnen war über der Garage angebracht und zielte in Richtung Auffahrt und Eingangstür, eine weitere war im Flutlicht über der Hintertür versteckt und eine dritte befand sich außerhalb des Panikraumes im Keller. Alle drei nahmen rund um die Uhr auf. Er hatte auch alle Schlösser im Haus ausgetauscht. Ihr ehemaliger Nachbar, der jetzt verstorbene Herr Thompson, hatte einen Schlüssel für die Eingangs- und Hintertür, doch seine Schlüssel verschwanden, als der Attentäter Rais seinen Wagen stahl.
Außerdem waren Ortungschips in seine Töchter implantiert worden. Beide waren sich dessen nicht bewusst. Man hatte ihnen eine Injektion gesetzt und ihnen gesagt, dass es sich um eine Grippeimpfung handelt. Doch in Wirklichkeit war es ein subkutanes GPS-Ortungsgerät, kleiner als ein Reiskorn, das man ihnen in den Oberarm gespritzt hatte. Wo auch immer sie auf der Welt wären, ein Satellit wüsste darüber Bescheid. Das war Agent Stricklands Einfall und Reid hatte ihm fraglos zugestimmt. Insbesondere merkwürdig war es, dass Deputy Direktor Cartwright sofort unterschrieb, obwohl es sehr kostenaufwendig war, zwei Zivile mit CIA Technik auszustatten.
Reid ging in die Küche und fand Maya im Wohnzimmer nebenan., die einen Film im Fernsehen sah. Sie faulenzte auf ihrer Seite des Sofas, immer noch im Schlafanzug, und beide ihrer Beine hingen von der Lehne.
“Hallo.” Reid stellte die Pizza-Schachtel auf die Arbeitsfläche und zog sich seine Tweedjacke aus. “Ich habe dir eine SMS geschrieben. Du hast nicht geantwortet.”
“Das Telefon lädt sich oben auf”, antwortete Maya gelassen.
“Kann sich das nicht hier unten aufladen?” fragte er spitz.
Sie zuckte nur mit den Schulter.
“Wo ist deine Schwester?”
“Oben”, gähnte sie. “Glaube ich.”
Reid seufzte. “Maya —”
“Sie ist oben, Papa. Mann…”
So sehr er sie auch für ihr launische Haltung der letzten Zeit ausschimpfen wollte, hielt Reid sich dennoch zurück. Er wusste immer noch nicht genau, was die beiden während des Vorfalls mitgemacht hatten. In seinem Inneren nannte er es jetzt “den Vorfall”. Saras Psychologin hatte vorgeschlagen, der Sache einen Namen zu geben, damit sie in Gesprächen Bezug auf das Ereignis nehmen könnten. Er hatte es allerdings noch nie laut ausgesprochen.
Überhaupt sprachen sie kaum darüber.
Aus den Krankenhausberichten, sowohl aus dem aus Polen als auch aus dem einer zweiten Untersuchung in den USA, wusste er, dass beide seiner Töchter zwar kleinere Verletzungen erlitten hatte, doch keine von ihnen vergewaltigt worden war. Er hatte jedoch mit eigenen Augen gesehen, was mit einigen der Opfer der Menschenhändler geschehen war. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, die Details der fürchterlichen Qual zu hören, die sie wegen ihm erlitten hatten.
Reid ging nach oben und hielt einen Augenblick vor Saras Schlafzimmertür inne. Die Tür stand ein paar Zentimeter offen. Er blickte hinein und sah, dass sie auf ihrer Bettdecke lag und die Wand anblickte. Ihr rechter Arm lag auf ihrer Hüfte, immer noch vom Ellenbogen an in dem beigen Gips. Morgen hatte sie einen Termin beim Arzt, um festzustellen, ob man ihn abnehmen könnte.
Reid drückte sanft die Tür auf, doch die Scharniere quietschten trotzdem. Sara bewegte sich jedoch nicht.
“Schläfst du?” fragte er leise.
“Nein”, murmelte sie.
“Ich, äh… ich habe eine Pizza mitgebracht.”
“Hab keinen Hunger”, gab sie matt zurück.
Seit dem Vorfall aß sie nicht viel. Reid musste sie sogar ständig daran erinnern, Wasser zu trinken, sonst nähme sie kaum etwas zu sich. Er verstand besser als die meisten, wie schwer es war, Trauma zu überleben, doch dies fühlte sich anders an. Schlimmer.
Dr. Branson, die Psychologin, zu der Sara ging, war eine geduldige und mitfühlende Frau, die sehr empfohlen wurde und von der CIA zertifiziert war. Doch laut ihrer Berichte sprach Sara während der Therapie-Sitzungen nur wenig und beantwortete Fragen mit so wenig Worten wie möglich.
Er saß auf dem Rand ihres Bettes und strich das Haar aus ihrer Stirn. Sie zuckte leicht bei seiner Berührung zurück.
“Kann ich irgendwas für dich tun?” fragte er leise.
“Ich will einfach nur allein sein”, murmelte sie.
Er seufzte und stand vom Bett auf. “Verstehe ich”, sagte er empathisch. “Ich würde mich trotzdem sehr darüber freuen, wenn du herunterkämst und wir zusammen sein könnten, wie eine Familie. Vielleicht könntest du versuchen, ein paar Happen zu essen.”
Читать дальше