„Oh ja! Stella! Genau so wird es sein. Ich habe schon meine Sachen gepackt. Ich bin gleichzeitig froh und traurig und ängstlich. Gemischte Gefühle vor der Ungewissheit. Ich will nicht über traurige Sachen reden. Erzähl weiter, was du noch erlebt hast. Du bist meine Spielmünze.“
„Das Spiel ist ganz lustig. Es passt gut für eine große Gesellschaft, besonders für Raucher oder Betrunkene, denen man während des Spiels eine Zigarette stecken kann.
Man legt eine Serviette auf ein normales Glas. Damit sie nicht rutscht, kann man den Glasrand mit einem Stück Eis einreiben. Ein Eiskübel steht während des ganzen Abends auf jedem Tisch. Auf die Mitte der Serviette wird eine Münze gelegt. Danach brennen alle Spieler, die am Tisch sitzen, mit ihren Zigaretten je ein Loch um die Münze herum hinein. Derjenige, bei dem dabei die Münze ins Glas fällt, hat verloren. Die Japaner haben meistens schlechte Augen und mit ihren Zigaretten wild in die Gegend. Die treffen nicht einmal das Glas. So gehe ich durch den Klub wie ein Sparschwein, mit einer Münze im Glas.“
Am anderen Ende war das feine Lachen der Freundin zu hören.
„Sag mal, arbeiten viele Russinnen bei euch?“
„Nein, es gibt wenig Russinnen. Wenn man Weißrussinnen nicht dazurechnet. Dafür gibt es eine Menge Ukrainerinnen, aus Donezk, Charkow, Sumy und Kiew. Ein Mädchen aus Litauen.
Nach der Arbeit laden die Japaner alle Mädchen zu einem späten Abendessen ein, oder besser gesagt, zu einem frühen Frühstück. Es gilt als cool, einen Haufen schöner Mädels ins Restaurant einzuladen. Da sitzt dann ein Typ mit zwanzig Weibern da, stolz wie ein Adler, und zeigt allen, wie steinreich er ist. Die Japaner geben gern an. Das ist ein Teil ihres Lebens, es bringt Status und Prestige. Er zahlt für alle ohne zu überlegen, was ihn die ausgesuchtesten Speisen Japans kosten würden. Die Mädchen ihrerseits genieren sich nicht und bestellen Fugu oder verschiede Seeigel, und das kann am Ende des Abends ganz schön ins Geld gehen.
Ich werde zusehends dicker! Schrecklich! Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, wenn es so leckeres Essen gibt. Ich verputze alles. Stell dir vor, gestern zum Aperitif habe ich kleine lebende Fische gegessen. Die werden in einem hohen Glas serviert, damit sie nicht herausspringen können. Man greift mit den Stäbchen ins Glas, schnappt einen Fisch, führt ihn zum Mund und schluckt ihn ganz.“
„Einen lebenden Fisch?“
„Ja klar! Du kannst spüren, wie er irgendwo in deinem Bauch stirbt.“
„Pfui, wie ekelhaft! Wie konntest du sowas aufessen? Du bist pervers!“
„Das höre ich doch gerade von dir sehr gern“, sagte Stella schmunzelnd.
Gelächter erklang von beiden Enden der Welt und verschmolz zu einer Sinfonie zweier verwandter Seelen.
„Geh schlafen, Liebes. Morgen hast du einen schweren Tag.“
„Ich kann bestimmt nicht einschlafen.“
„Schlaf bitte! Du musst doch unwiderstehlich sein an deinem ersten Arbeitstag im schönen Genf!“
„Gut. Ich rufe dich vor dem Abflug an. Ich versuche auch, zu schlafen. Küsschen…“
„Küsschen zurück…“
„Oh Gott. Es macht so einen Spaß, mit dieser Schlange zu telefonieren! Ich sollte vielleicht doch das Land der Schlitzaugen besuchen! Sushi, Fugu… mmmmm.“
Sie konnte nicht einschlafen. Die ganze Nacht drehten sich in ihrem Kopf schreckliche Gedanken: Sie könnte am Flughafen verhaftet werden oder eine internationale Fahndung nach ihr könnte eingeleitet werden. Sie war sauer, weil Stella es geschafft hatte, davonzukommen. Natalja war der Meinung, dass gerade ihre Freundin im Gefängnis enden sollte. Die zweite Frage, die ihr keine Ruhe ließ, lautete: Was erwartete sie wirklich in Genf? Sehr viele Mädchen kamen nicht mehr zurück, wenn sie einmal im Ausland waren.
„Dieser Stella werd ich's noch zeigen! Ich werde es alles viel besser machen als sie! Sonst wäre ich ja nicht ich. Ich lasse mich von dieser hochnäsigen Schlampe nicht übertrumpfen! Nie im Leben!“
Ihre Gedanken drehten sich wie das Karussell, das sie einmal in einem amerikanischen Kinderfilm gesehen hatte: Vorn fuhr ein Auto und dahinter flog ein Hubschrauber. Wie ein Präsidentenkonvoi. Genau so und nicht anders stellte sich Natalja ihr Leben in der Fremde vor. Befriedigt von diesen positiven Gedanken sank sie in den Schlaf. Sie träumte, dass sie mit einem Hündchen mit rosarotem Schleifchen im Arm in einen hellblauen Bentley stieg und durch die Stadt fuhr. Ihr Seidenschal wehte. Sie zahlte überall mit einer schwarzen American- Express-Karte, deren Limit mindestens fünftausend Dollar sein sollte. Für kleinere Ausgaben würde das reichen.
Am Morgen, noch nicht ganz aus dem wunderbaren Traum erwacht, dachte sie weder an Stellas Bräutigam noch an ihren Ljonja. Dennoch ertappte sie sich bei dem Gedanken:
„Heißt er wirklich Ljonja? Stella, dieses Miststück, kann einen ganz um den Verstand bringen. Ach was, natürlich heißt er Ljonja! Ich bin doch nicht blöd!“
Sie schritt fest durch das Zimmer, murmelte vor sich hin, packte den Rest ihrer Sachen und dachte dabei nur an Geld und Unabhängigkeit. Natalja war sich sicher, dass das Glück aus Kohle bestünde. Je mehr, desto besser. Wenn jemand sie von dieser Meinung abbringen wollte oder diese unmoralische Einstellung zu widerlegen versuchte, fragte sie ihn einfach, ob er reich wäre. Immer stellte sich dann heraus, dass dieser Mensch arm war. Von einem reichen Mann bekam sie so etwas nie zu hören.
Zum ersten Mal, seit sie in Moskau war, hatte sie die Nachrichten auf ihrem Handy nicht überprüft. Außerdem löschte sie alle Kontakte darauf.
Natalja trat vor den Spiegel, um sich von der Seite zu betrachten. Sie wollte ihr Gesicht sehen, um zu erkennen, ob sie litt oder nicht. Sie lächelte so eiskalt und gefühllos, dass selbst der Satan erschaudert wäre. Sie begann das Lied „Non, je ne regrette rien“ von der berühmten französischen Prostituierten Edith Piaf zu summen. Sie war aufgeregt, gestikulierte theatralisch, wand sich wie eine Brillenschlange und genoss die Biegsamkeit ihres schlanken Körpers. Ihre Augen blitzten teuflisch. Es schien fast schrecklicher, in diese kindlich anmutenden, aber hasserfüllten Augen zu blicken als in die Tiefen der Hölle.
„Ihr findet es lustig, aber ich leide“, sagte sich das Mädchen leise und kalt und erstickte fast vor fieberhaftem Gelächter.
Bravo!“ Ein tolles Bild! Sie hatte eine gute Rolle am Bolschoi-Theater verdient.
Das Mädchen war zweifellos eine wahre Bestie! Eine Strafe für Männer, ein Blutegel für Frauen, Mütter und unschuldige Kinder. Nicht umsonst hatte man die Huren in alten Zeiten verbrannt. Sie stellten eine tödliche Bedrohung für das Familienglück und Ruhe der Menschen dar. Aber auch heutzutage waren Frauen bereit, wegen eines geliebten Mannes oder vielleicht wegen eines reichen Politikers. Da gab es keinen wesentlichen Unterschied. Die Jagd auf Männer lief rund um die Uhr, wie der Grill bei McDonalds. Selbst in klirrend kalten Nächten marschierten kampfbereite, mit Silikon optimierte Weiber zu Hunderten durch die Straßen, gaben vor, dass sie sich verlaufen hatten, und fragten bei jedem Mercedes oder BMV aufs Geratewohl, wie sie zur nächsten U-Bahn-Station gelangen könnten – in der Hoffnung auf die Rückfrage:
„Junge Dame, kann ich Sie mitnehmen?“
Ganz abgesehen von den professionelleren Huren, die ihr Startkapital für eine produktivere Männerjagd bereits angehäuft hatten, die in warmen Restaurants, auf Skipisten, an Stränden und allerlei anderen Orten ihre Fallen stellten und das Leben von anständigen Hausfrauen und Mütter verdarben, die ihrer weiblichen Reize nicht mehr sicher waren.
Ein Paradoxon der verfluchten Realität!
Die Fahrt zum Flughafen war nervig. Es gab fürchterliche Staus. Die Wartezeit hätte ausgereicht, um das Auto zu verkaufen und ein neues zu erwerben, das näher an der Ampel hielt.
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