„Ich habe echt Angst gehabt. Wir sind ja Verbrecherinnen. Früher oder später finden sie uns auch in Russland.“
„Das wird sie aber schon etwas Mühe kosten“, erwiderte Natalja.
„Weißt du, ich würde inzwischen auch einen Japaner heiraten, wenn ich nur nicht ins Gefängnis muss.“
„Erzähl mir keine Horrorstorys. Ich würde lieber in den Knast gehen, als einen Japaner zu heiraten.“
„Nur gut, dass ich nach Genf gehe. Dort leben wenigstens normal große, weiße Menschen mit richtigen Augen. Schade, dass du nicht mitkommst. Das wirst du eines Tages bereuen.“
„Ich kann nicht so schnell und plötzlich nach Genf. Das wäre für mich der Horror gewesen.“
Bis die Dokumente fertig waren, fickte Natalja die Hälfte der männlichen Bevölkerung Moskaus durch.
Stella kam mit ihr mit, lernte einen sympathischen Jungen kennen und zog mit ihm durch die Klubs oder von einer Party zur anderen. Natalja konnte zuerst kaum glauben, dass Stella nicht mehr so langweilig war und das Klugscheißen aufgegeben hatte. Im Gegenteil, sie gab mit einem Mal ordentlich Gas. Außerdem lernte Stella Japanisch. Sie begann mit ein paar Sätzen, die eine Frau braucht. Ihre Schuhgröße zum Beispiel, siebenunddreißig, hieß auf Japanisch „san ju nana“. Dazu kamen viele andere Wörter, bei denen es meistens um die Bestellung von Speisen und Getränken im Restaurants ging. Sie fand diese Sprache cool, wenn auch ein bisschen ulkig.
Natalja lernte Französisch. Sie plauderte per Skype mit allen möglichen Franzosen rund um den Globus in der Hoffnung, eine der schwierigsten Sprachen der Welt zu erlernen. Das wollte sie so schnell wie möglich erledigen und kam dabei sehr gut voran. Natalja versprach jedem im Chat, gerade ihn bald in Frankreich zu besuchen. Natürlich freuten sich die Männer auf diese Aussichten und übten mit der schönen Gaunerin stundenlang ihre Sprache. Wie immer lief alles unter ihrem Motto: Alle sind Scheiße, und ich bin Königin!
Die Mädchen nutzten ihre Zeit in der russischen Hauptstadt gut. Mehr als fünfzehn Geschäfte nach fast dem gleichen Schema fädelten sie ein. Aber die Maßstäbe in Moskau waren schon um einiges größer. Statt Wohnungen vermieteten sie ganze Arbeiterhostels. Kaum waren die Bewohner zur Arbeit gegangen, brachten sie neue Brigaden auf deren Plätze. Die Unterkünfte wurden schnell bezogen, den Mietern legten sie gefälschte Eigentumsdokumente vor. Gewöhnlich achteten die Leute nicht besonders auf die Echtheit des Notarsiegels oder Stempels. Es wäre aber hilfreich, den Menschen beizubringen, wie man solche Situationen vermeidet, in die sie meist durch ihren eigenen Leichtsinn geraten. Seit damals sind mehr als zwölf Jahre vergangen. Inzwischen sind die Menschen vorsichtiger geworden. Es gibt nun Überwachungssysteme, Kameras, kurzum, Fortschritt.
Der Tag des Abschieds rückte näher. Stella sollte die Reise als erste antreten, weil ihr Platz früher reserviert war. Ihre Nerven wurden allmählich schwächer. Sie war gereizt. Stella hatte den Eindruck, dass alles was sie tat, völliger Unsinn oder jedenfalls ein Fehler war. Außerdem ihre Beziehung zu Nikita sie nicht zur Ruhe kommen. Den Mann, mit dem sie letzte Monate verbracht hatte, konnte sie nicht vergessen. Er war ein gebürtiger Moskauer, höflich, angenehm, still und ruhig. Er beeilte sich nie wirklich, erledigte aber trotzdem alles rechtzeitig. Zu Stella war er zärtlich, umarmte sie, streichelte und küsste ihre Hände. Das Mädchen dachte, sie hätte ihr Glück und ihre Ruhe gefunden. Er war groß, sogar sehr groß, hatte dunkles Haar und braune Augen. Sie hatte sich ihr Glück immer mit solchen braunen Augen vorgestellt. Einen leidenschaftlichen Liebhaber konnte man ihn kaum nennen, aber er war von zärtlicher Ausdauer. In seinen Armen bekam sie am ganzen Körper Gänsehaut vor Lust. Genau so nannte sie ihn in Gedanken: „meine Gänsehautliebe“.
Die Emotionen in dieser Beziehung konnte man natürlich nicht mit elektrischen Ladungen vergleichen, aber Nikita war doch keine schlechte Wahl.
Stella hatte ihn nicht ernst genommen. Sie liebte bewegliche Menschen und Sport. In ihrer Schulzeit hatte sie an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen. und meistens gewonnen. Dafür gab sie hundert Prozent, koste es, was es wolle. Sie hatte sich mit kräftigen, sportlichen Jungen getroffen, die einen starken Charakter hatten und Wort halten konnten. Stella sagte, sie möge echte Männer, keine Schwuchteln. Nikita sah dagegen eher wie ein warmer Bruder als wie ein harter Mann aus. Ein Weichling mit dünnen Ärmchen. Beim Sex mit ihm spielte Stella immer die erste Geige.
Stella verabschiedete sich von ihrem guten Nikita, der mit dem gekränkten Gesicht eines unglücklichen, verlorenen Kindes dastand. Sein Aussehen weckte Stellas mütterliche Gefühle. Sie brach in Tränen aus. Im Gegensatz zu ihm wusste sie sehr gut, dass es ihr letztes Treffen war.
Natalja saß wütend zu Hause und wartete auf Stella.
Sie war sauer auf ihre Freundin, weil diese ins Land der Zwerge reiste und sie im Stich ließ. Dafür fand sie einfach keine Erklärung. Vieles veränderte sich in der Beziehung der Mädchen während dieser letzten Zeit. Natalja hatte sich an ihre „Schlange“ gewöhnt, und vielleicht liebte sie sie sogar ein wenig. Oder war es nur die gewöhnliche Angst, allein zurückzubleiben, die die arme Blonde quälte? Als Stella in die Wohnung kam, sah sie das besorgte Gesicht der Weggefährtin und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. In dieser Minute tat es ihr leid, dass sie diese überstürzte, unbesonnene, auf Emotionen und Ressentiments beruhende Entscheidung getroffen hatte. Der verdammte Job als Notarin und der gemeinsame Arbeitsalltag hatten sie beide restlos aufgefressen. Skandale und andere Probleme brachten sie dazu, den Schritt zu gehen, den sie vor drei Monaten gewagt hatten.
Aber heute! Heute ist alles anders! Ganz anders! Ich bin selber schuld! Mein verdammter Charakter! Ich konnte nicht nachgeben! Ich dachte, so wäre es besser! Sie hat mich verrückt gemacht mit ihren Zicken! Aber warum ist das nicht mehr wichtig? Alles ist vor meinen Augen anders geworden! In kurzer Zeit! Ich will in dieses verfluchte Genf! Scheiß auf das Tanzen! Das kann ich lernen! Aber nein, jetzt ist nichts mehr daran zu ändern…
„Ich komme! Du wirst sehen!“
„Ich warte auf dich! Jetzt schon! Du bist noch gar nicht weg, du Schlange! Aber ich warte schon auf dich!“, rief das Mädchen durch ihre Tränen.
Sie gingen hinaus auf die Straße. Das Taxi war bereits da. Natalja knallte die Tür zu, als Stella im Wagen saß. Sie versuchte die Lage zu entspannen, indem sie vor dem Autofenster eine Äffin darstellte, die sich mit einem Finger stieß. Das sollte Sex mit Japanern bedeuten. Stella brach in ein heiseres Gelächter aus, das durch die Tränen aus ihrer Seele brach. Diesen Moment behielten die beiden Mädchen für immer in Erinnerung.
Allmählich kam auch für Natalja die Zeit, sich auf die Abreise vorzubereiten. Sie lief im Galopp durch ganz Moskau, um sich so viele rosa und hellgrüne Striptease-Kleider wie möglich schneidern zu lassen. Sie kaufte Highheels, die so hoch waren, dass sie ihr mindestens zwanzig Zentimeter zusätzliche Körpergröße einbrachten. Sie ließ ihre Haare verlängern, freilich ohne jeden Grund, besorgte sich verschiedene Körpercremes mit Glitzer, weil sie meinte, sie hätte Zellulitis an den Oberschenkeln, die aber nur für sie selbst sichtbar war. Sie nahm noch ein paar Stunden Pole-Dance-Unterricht, um ihre Professionalität zu überprüfen. Sie ließ Begleitmusik für ihre Show aufnehmen. Sie erledigte alles, was sie vor der Abreise noch hatte tun wollen.
Sie vermisste Stella sehr. Die spitzzüngigen Ratschläge und die Kritik der Freundin fehlten ihr. Sie telefonierten meistens nachts. Wenn Stella aufwachte, war in Japan schon heller Tag, aber in Moskau, wo sich Natalja befand, herrschte noch tiefe Nacht, etwa um drei Uhr morgens. Natalja schrie Stella an, weil sie sie immer aufweckte. Aber meistens hielt sich Natalja um diese Zeit in einem der Klubs der Stadt auf, wie immer, mit weiß Gott wem. Mit Vergnügen plauderte sie mit ihrer Freundin über alles. Die Gespräche in angeheiterter Stimmung hatten den Effekt, dass ihre Freundschaft zu einer festen, unzerbrechlichen Verbindung wurde. Beide waren der Meinung, dass sie sich noch nie so prächtig verstanden hätten wie jetzt. Stella erzählte, sie habe sich durch ihre neuen, unglaublichen Erlebnisse völlig verändert und die Angst vor der Tanzstange überwunden. Jetzt tanze sie im Klub in einer Show. Das sehe zwar noch eher wie ein Samurai-Tanz aus, als wie der weibliche Auftritt einer Geisha, aber sie gebe sich große Mühe. Und sie habe sogar gelernt, kopfüber an der Tanzstange zu hängen. Innerhalb eines Monats habe sie ziemlich zugenommen. Alkohol und leckeres Essen hätten noch niemanden zu einer vollkommenen Körperform gebracht. Die Japaner lüden sie jeden Tag in verschiedene Lokale ein, wo vier Meter lange Tische voll mit Leckereien aus Fisch und Meeresfrüchten beladen seien. Gewöhnlich nehme ein Japaner eine ganze Gruppe von Mädchen mit. Anscheinend solle das seine Solidität unterstreichen. Im Klub arbeiteten ungefähr zwanzig Personen. Acht von ihnen seien Rumäninnen. Sie seien heruntergekommen und hämisch wie Zigeunerinnen. Sie hassten Russinnen und Ukrainerinnen, stritten und kämpften um jeden Kunden.
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