Als Handtaschenräuber mußte Billy gut in Form sein und fast so schnell wie ein Hirsch springen können. Seine Kondition war jetzt sein einziger Vorteil.
War es möglich, dem Teufel zu entfliehen?
Er rannte aus dem Eßzimmer ins Wohnzimmer, sprang über einen Fußschemel und eilte zur Haustür. Sein Bungalow stand zwischen einem ungenutzten Baugelände und einer Spedition, die abends geschlossen war, aber auf der anderen Straßenseite gab es doch einige Häuser, und an der Ecke war ein 7-Eleven-Supermarkt, in dem normalerweise reger Betrieb herrschte. Billy glaubte, daß er in Gegenwart anderer Leute in Sicherheit sein würde, weil der Dämon bestimmt nicht von jedermann gesehen werden wollte.
Er rechnete halb damit, daß die Kreatur ihn anspringen und ihre Zähne in seinen Hals bohren würde, während er die Haustür auf riß. Das geschah nicht. Trotzdem blieb er auf der Schwelle wie angewurzelt stehen, als er sah, was vor ihm lag: nichts. Draußen gab es nichts, keinen Rasen, keinen Gehweg, keine Bäume, keine Straße. Keine Häuser auf der anderen Straßenseite, keinen Supermarkt an der Ecke. Nichts. Gar nichts. Nirgendwo ein Licht. Der Abend war außerhalb seines Hauses unnatürlich dunkel, absolut lichtlos wie der Boden eines Minenschachts - oder wie das Innere der Handtasche, aus der die Kreatur herausgeklettert war. Und trotz des milden Aprilabends war die samtschwarze Finsternis eiskalt, genauso eiskalt wie das Innere der großen schwarzen Ledertasche.
Billy stand schwitzend und atemlos auf der Schwelle. Er zitterte wie Espenlaub, und sein Herz hämmerte wild in der Brust. Ihm kam plötzlich die absurde Idee, daß sein ganzer Bungalow sich jetzt in der Tasche der verrückten Alten befand. Aber das ergab natürlich keinen Sinn. Die bodenlose Tasche lag auf dem Küchentisch. Wenn die Tasche im Haus war, konnte das Haus nicht gleichzeitig in der Tasche sein. So etwas war unmöglich. Oder doch nicht?
Er war völlig durcheinander. Ihm war schwindelig und Übel.
Er hatte immer alles Wissenswerte gewußt. Jedenfalls hatte er sich das eingebildet. Jetzt wurde er eines Besseren belehrt.
Er traute sich nicht, aus dem Bungalow in die undurchdringliche Finsternis hinauszutreten. Er glaubte nicht, daß es dort draußen in der kohlrabenschwarzen Nacht irgendeinen Zufluchtsort gab, und er wußte instinktiv, daß es kein Zurück geben würde, sobald er auch nur einen Schritt in die eisige Dunkelheit hinaus machte. Ein einziger Schritt, und er würde in jene schreckliche Leere stürzen, die er in der Tasche gespürt hatte: immer tiefer hinab, bis in alle Ewigkeit.
Ein Zischen.
Die Kreatur mußte dicht hinter ihm stehen.
Wimmernd wandte Billy sich von der grauenvollen Leere jenseits seines Hauses ab, warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo der Dämon auf ihn wartete, und schrie entsetzt auf, als er sah, daß die Ausgeburt der Hölle größer geworden war. Viel größer. Nicht mehr dreißig Zentimeter, sondern fast einen Meter groß. Mit breiteren Schultern, muskulöseren Armen, dickeren Beinen, größeren Händen und längeren Krallen. Das widerwärtige Geschöpf war nicht direkt hinter ihm, wie er befürchtet hatte. Es stand mitten in dem kleinen Wohnzimmer und beobachtete ihn grinsend, mit mörderischem Interesse, so als wollte es ihn verhöhnen, indem es die Konfrontation bewußt hinauszögerte.
Der Unterschied zwischen der wannen Luft im Haus und der eisigen Luft jenseits der Schwelle erzeugte einen Zug, der die Haustür krachend zufallen ließ.
Fauchend machte der Dämon einen Schritt vorwärts, und Billy konnte hören, wie sich das knorrige Skelett und das schlammige Fleisch aneinander rieben, so als wäre eine Maschine schlecht geölt.
Er wich zurück und versuchte, seitwärts an der Wand entlang den kurzen Gang am anderen Ende des Zimmers zu erreichen, der in sein Schlafzimmer führte.
Die abscheuliche Kreatur folgte ihm, und ihr Schatten war sogar noch grotesker und unheimlicher, als zu erwarten gewesen wäre. Nicht der mitgestaltete Körper schien diesen Schatten zu werfen, sondern die noch viel monströsere Seele. Vielleicht war sich der Unhold bewußt, daß sein Schatten nicht stimmte, vielleicht wollte er nicht über die Ursache dieser verzerrten Silhouette nachdenken - jedenfalls warf er absichtlich die Stehlampe um, während er Billy verfolgte, und nun, da alles in Schatten gehüllt war, bewegte er sich behender und zuversichtlicher, so als käme die Dunkelheit ihm sehr zupaß.
Billy hatte die Schwelle zum Gang erreicht, machte einen Satz, rannte ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er drehte den Schlüssel im Schloß, gab sich aber nicht der Illusion hin, in Sicherheit zu sein. Die Kreatur würde dieses Hindernis mühelos überwinden. Er hoffte nur, daß ihm noch genügend Zeit blieb, um die Smith & Wesson 357er Magnum aus der Nachttischschublade zu holen, und das gelang ihm tatsächlich.
Die Pistole war kleiner als in seiner Erinnerung. Er sagte sich, daß sie ihm nur deshalb unzureichend vorkam, weil sein Gegner so furchterregend war. Wenn er abdrückte, würde die Waffe sich durchaus als groß genug erweisen. Doch sie kam ihm trotzdem sehr klein vor, fast wie ein Spielzeug.
Er umklammerte die Pistole mit beiden Händen und zielte auf die Tür, wußte aber nicht so recht, ob er durch das Holz hindurch schießen oder lieber abwarten sollte, bis der Unhold ins Zimmer stürzte.
Der Dämon nahm Billy die Entscheidung ab: Die verschlossene Tür explodierte förmlich, es regnete Holzsplitter und verbogene Metallscharniere, und schon stand er im Raum, noch größer als zuvor, über einen Meter achtzig, größer als Billy, ein gigantisches ekelerregendes Wesen. Jetzt konnte man noch besser erkennen, daß es aus Klärschlamm, Schleimklumpen, verfilzten Haaren, Pilzen und verwesten Leichenteilen bestand. Nach faulen Eiern stinkend, seine sechs weißglühenden Augen auf Billy gerichtet, kam es immer näher und blieb nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde stehen, als Billy sechs Schüsse abfeuerte.
Um Himmels willen, wer oder was war jene Alte gewesen? Ganz bestimmt keine normale Seniorin, die von der Sozialhilfe lebte, hin und wieder beim Metzger einkaufte und sich auf das Bingo am Samstagabend freute. Verdammt, nein! Und nicht einmal eine Verrückte würde eine derart unheimliche Tasche besitzen und ein solches Ungeheuer in ihren Diensten haben. War die Alte eine Hexe gewesen?
Natürlich, das war die einzige Erklärung. Eine Hexe!
In eine Ecke gedrängt, seine leere Pistole immer noch in der linken Hand, während die rechte von den Bissen und Kratzern brannte, das Monster dicht vor sich, begriff Billy zum erstenmal in seinem Leben, was es bedeutete, ein wehrloses Opfer zu sein. Als das grausige Wesen, für das er keinen Namen wußte, seine groben Hände mit den säbelartigen Krallen nach ihm ausstreckte - eine Hand packte ihn bei der Schulter, die andere bei der Brust -, machte Billy in die Hose und wurde zu einem schwachen, hilflosen und zu Tode geängstigten Kind.
Er war überzeugt, daß der Dämon ihn in Stücke reißen, ihm das Rückgrat brechen und das Mark aus seinen Knochen saugen würde, aber statt dessen senkte die Kreatur nur ihren mißgebildeten Kopf und preßte ihre gummiartigen Lippen auf seinen Hals, direkt auf die Halsschlagader, fast so, als wollte sie ihn küssen. Doch dann spürte Billy, daß die kalte Zunge ihn vom Schlüsselbein bis zu den Kieferknochen ableckte, und das fühlte sich so an, als würde er von hundert Nadeln gestochen. Gleich darauf war er total gelähmt.
Die Kreatur hob ihren Kopf und betrachtete sein Gesicht. Ihr Atem stank noch schlimmer als ihr Fleisch, von dem ein penetranter Friedhofsgeruch ausging. Außerstande, die Augen zu schließen oder auch nur zu blinzeln, starrte Billy in den Rachen des Dämons und sah die weiße stachelige Zunge.
Das Monster trat einen Schritt zurück, und Billy sank schlaff zu Boden. Obwohl er sich verzweifelt bemühte, konnte er nicht einmal einen Finger rühren.
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