Wenn Billy in Aktion war, rammte er irgendeine ahnungslose Frau, beraubte sie ihrer Handtasche und war schon Meter entfernt, bevor sie überhaupt registrierte, daß sie bestohlen worden war. Taschen mit einem Bügel, Taschen mit zwei Bügeln, Schultertaschen, Unterarmtaschen - alle Arten von Taschen waren für Billy Neeks eine leichte Beute. Ob sein Opfer vorsichtig oder sorglos war, spielte keine Rolle. Er ließ sich durch nichts abschrecken.
An diesem Mittwoch im April spielte er den Betrunkenen und rempelte eine gutgekleidete ältere Frau auf der Broad Street an, vor dem Kaufhaus Bartram’s. Während sie angewidert auszuweichen versuchte, glitt der Schulterriemen ihrer Tasche unmerklich an ihrem Arm hinab, und die Tasche verschwand in der Plastiktüte, die Billy immer bei sich trug. Torkelnd entfernte er sich von ihr und hatte schon sechs oder acht Schritte gemacht, als der Frau endlich auffiel, daß dieser Zusammenprall nicht so unabsichtlich gewesen war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Als das Opfer zum erstenmal »Polizei!« rief, rannte Billy schon los, und bis die Frau »Hilfe, Polizei, Hilfe!« kreischte, war er schon fast außer Hörweite.
Er sprintete durch einige Seitenstraßen, umrundete geschickt die Mülltonnen, sprang über die gespreizten Beine eines schlafenden Penners hinweg, hetzte über einen Parkplatz und flüchtete in eine andere Gasse.
Mehrere Blocks vom Bartram’s entfernt, konnte er es sich erlauben, langsam weiterzugehen. Er war nicht einmal allzusehr außer Atem, und er grinste zufrieden.
An der Ecke zur 46th Street sah er eine junge Mutter, die ein Baby und eine Einkaufstüte schleppte und eine Handtasche am Arm trug. Sie sah so wehrlos aus, daß Billy der Versuchung einfach nicht widerstehen konnte. Er rückte sein Klappmesser und schnitt im Nu die dünnen Riemen ihrer teuren Handtasche aus blauem Leder durch. Dann rannte er wieder los, quer über die Straße, wo Autofahrer scharf bremsen mußten und wütend hupten. Erneut tauchte er in den Seitenstraßen unter, die ihm wohlvertraut waren.
Während seiner Flucht kicherte er vergnügt vor sich hin. Dieses Kichern war weder schrill noch einnehmend; vielmehr hörte es sich so an, als würde Salbe aus einer Tube gedrückt.
Wenn er auf irgendwelchen Abfällen - Orangenschalen, welken Kohlblättern oder durchweichten und schimmeligem Brot - ausrutschte, fiel er nie hin; er mußte nicht einmal seine Geschwindigkeit verringern. Ganz im Gegenteil - diese Schlitterpartien schienen ihm geradezu Flügel zu verleihen.
Am Prospect Boulevard verlangsamte er das Tempo und schlenderte gemächlich dahin. Das Klappmesser war längst wieder in seiner Hosentasche verschwunden, und die beiden gestohlenen Handtaschen ruhten in der Plastiktüte. Er setzte eine Unschuldsmiene auf - jedenfalls bemühte er sich nach Kräften darum, obwohl dieser Versuch kläglich mißlang -, erreichte unbehelligt sein Auto, das an einer Parkuhr am Prospect Boulevard korrekt abgestellt war, und verstaute die gestohlenen Handtaschen im Kofferraum. Sein Pontiac war seit mindestens zwei Jahren nicht mehr gewaschen worden und hinterließ überall Ölflecken - so wie ein Wolf in der Wildnis sein Territorium mit Urin markiert. Fröhlich pfeifend, fuhr er in einen anderen Stadtteil, zu neuen Jagdrevieren.
Es gab verschiedene Gründe für seinen Erfolg als Handtaschenräuber, aber am allerwichtigsten war vielleicht seine Beweglichkeit. Die meisten Straßenräuber waren Kids, die auf die Schnelle zu ein paar Dollar kommen wollten, und diese jugendlichen Ganoven waren nicht motorisiert. Billy Neeks war fünfundzwanzig, alles andere als ein Kid, und er besaß ein zuverlässiges Fahrzeug. Sobald er in irgendeiner Gegend zwei oder drei Frauen beraubt hatte, setzte er sich ins Auto und nahm seine Arbeit in einem weit entfernten Viertel wieder auf, wo niemand nach ihm suchte.
Die jugendlichen Handtaschenräuber handelten oft aus einem plötzlichen Impuls heraus, oder aber sie begingen Verzweiflungstaten. Billy hingegen sah sich als Geschäftsmann, und er plante sein Gewerbe genauso sorgfältig wie jeder andere Geschäftsmann, wägte Risiken und Chancen jedes Einsatzes ab und schritt nur nach genauen, zuverlässigen Analysen zur Tat.
Andere Straßenräuber - Amateure ebenso wie dumme Profis - begingen oft den gravierenden Fehler, in der nächsten Seitenstraße oder in einem Torweg stehenzubleiben und die gestohlenen Taschen nach Wertsachen zu durchstöbern, wobei sie riskierten, verhaftet oder auch nur von zufälligen Zeugen beobachtet zu werden. So töricht war Billy nicht - er brachte die gestohlenen Handtaschen im Kofferraum unter und inspizierte sie später in aller Ruhe bei sich zu Hause.
Billy Neeks war stolz auf seine methodische und vorsichtige Vorgehens weise.
An diesem bewölkten und feuchten Mittwoch Ende April fuhr er kreuz und quer durch die Stadt und konnte in drei weit voneinander entfernten Vierteln noch sechs weitere Taschen erbeuten, abgesehen von den beiden, die er der älteren Frau vor Bartram’s Kaufhaus und der jungen Mutter in der 46th Street geraubt hatte. Die letzte der insgesamt acht Taschen nahm er wieder einer alten Frau ab, die auf den ersten Blick wie ein besonders leicht zu beraubendes Opfer wirkte, sich aber als unglaublich zäh entpuppte und Billy zuletzt regelrecht unheimlich wurde.
Als er sie erspähte, kam sie gerade aus einer Metzgerei in der Westend Avenue, ein Fleischpaket an die Brust gedrückt. Sie war alt . Ihr schütteres weites Haar bewegte sich in der Frühlingsbrise, und Billy hatte das seltsame Gefühl, als könnte er hören, wie diese trockenen Dauerwellen raschelten. Das runzelige Gesicht, die gebeugten Schultern, die welken bleichen Hände und der schlürfende Gang - alles vermittelte den Eindruck, als sei sie nicht nur sehr alt, sondern auch hinfällig und wehrlos, und das übte auf Billy eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, so als wäre er ein Eisenspan und sie ein Magnet. Ihre Handtasche war sehr groß, fast schon eine Mappe, und schien schwer zu sein, denn sie schob die Riemen - durch das Fleischpaket behindert -mühsam über die Schulter und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht, so als machte Arthritis ihr sehr zu schaffen.
Obwohl es Frühling war, war sie schwarz gekleidet: schwarze Schuhe, schwarze Strümpfe, schwarzer Rock, dunkelblaue Bluse und darüber auch noch eine schwere schwarze Wollweste, die an diesem milden Tag völlig überflüssig war.
Billy vergewisserte sich rasch, daß die Straße in beiden Richtungen leer war, und ging zum Angriff über. Er wandte wieder einmal seinen Betrunkenentrick an, torkelte auf die Alte zu und rempelte sie an. Doch als er die Riemen an ihrem Arm hinabzog, ließ sie plötzlich ihr Fleischpaket fallen und hielt die Tasche mit beiden Händen fest. Einen Moment lang waren sie in einen unerwartet heftigen Kampf verwickelt. Für eine Frau ihres Alters war sie erstaunlich kräftig. Billy riß und zerrte an der Tasche, versuchte sie ihr mit allen Mitteln zu entwinden und die Alte aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber sie erwies sich als ebenso standfest wie ein tief verwurzelter Baum, der jedem Sturmwind trotzt.
»Laß los, du altes Luder«, zischte Billy wütend, »sonst schlag ich dir in die Fresse!«
Und dann geschah etwas Merkwürdiges!
Sie verwandelte sich vor Billys Augen. Mit einem Mal sah sie nicht mehr gebrechlich, sondern stählern aus, nicht mehr schwach, sondern unheimlich energiegeladen. Ihre knochigen, arthritischen Hände glichen plötzlich den gefährlichen Klauen eines mächtigen Raubvogels. Das Gesicht - blaß, aber gelblich verfärbt, fast fleischlos, nur aus scharfen Linien und Falten bestehend - war immer noch alt, aber es kam Billy nicht mehr menschlich vor. Und ihre Augen! O Gott, ihre Augen! Das waren nicht mehr die wässerigen, kurzsichtigen Augen einer hilflosen Greisin, sondern Augen von überwältigender Kraft, die Feuer und Eis sprühten, sein Blut in Wallung versetzten und gleichzeitig sein Herz gefrieren ließen - Augen, die ihn durchbohrten und durch ihn hindurchsahen. Es waren die Augen eines mörderischen Raubtiers, das ihn bei lebendigem Leibe verschlingen wollte und konnte.
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