Ausnahmslos gelang es ihm dabei, eine effizientere Route als die vom Computer vorgeschlagene zu finden.
Dean und Sam kannten die besten Strecken vom Singer Schrottplatz in South Dakota zu fast jedem großen Highway. Die Interstate 80, auf der sie gerade fuhren, erstreckte sich von New York nach San Francisco und war wahrscheinlich der Highway, auf dem der Impala die meiste Zeit verbracht hatte. Er führte in gerader Linie nach Westen von Omaha über Nebraska zur Bay Bridge.
Sobald sie in Bobbys Bücherei alles über Doragon Kokoro nachgelesen hatten, fuhren sie los. Es war Mittag und Sam fuhr den ersten Teil der Strecke, während Dean – der die ganze Nacht gepokert hatte – auf dem Beifahrersitz schlief. Als der Abend dämmerte, übernahm Dean das Steuer.
Das hatte zwei Dinge zur Folge.
Erstens, die Musik aus dem Kassettenrekorder wurde lauter gestellt, angefangen mit …And Justice for All von Metallica.
Zweitens konnte Sam das Tagebuch noch einmal lesen. Bobbys Bücher und Papiere hatten nicht viel zutage gefördert, das Internet auch nicht. Es war allerdings ein Anfang und jetzt wollte er noch einmal sehen, was John geschrieben hatte.
Die Aufzeichnungen ihres Vaters ergaben im Lichte von Bobbys Material einige interessante Ungereimtheiten.
„Hm“, murmelte er.
Dean drehte die Musik leiser, als gerade The Shortest Straw anfing.
„Was?“
Sam blinzelte. Er hatte das nicht laut sagen wollen.
„Ich habe gerade Dads Notizen noch einmal gelesen“, erklärte er. „Er hatte interessante Ansichten über Albert Chao, den Typen, der den Geist die letzten beiden Male heraufbeschworen hat. Dad sah in ihm den typischen Beschwörer-Typus. Du weißt schon, so ein wieseliger kleiner Typ, der in der Welt nichts erreicht hat – oder zumindest nicht das, was er erreichen wollte. Also macht er auf okkult, um seine Unzulänglichkeiten wettzumachen.“
„Der sollte es mal mit ’ner kleinen blauen Pille probieren“, sagte Dean sarkastisch. „Egal, das muss nichts heißen. Von dem bisschen, was ich gelesen habe, glaubte Dad, dass Chao die gleiche Chance hatte, am Leben zu bleiben, wie ein Schneeball in der Hölle, nachdem der Geist gebannt war.“
Sam schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, Dean. Alles, was ich gelesen habe, deutet darauf hin, dass Chao derjenige sein muss, der den Geist beschwört. Er ist derjenige, dessen Vorfahr der Ronin ist, und nach den Texten zu urteilen, bleibt der Geist an den gebunden, der ihn heraufbeschworen hat. Er macht ihn unverwundbar.“
„Also, wir können den Kerl nicht erschießen?“
Sam zuckte mit den Schultern.
„Na ja, wir können, aber es bringt nichts. Das Beste wäre zu machen, was Dad gemacht hat – den Zauberspruch auf dem Schwert sprechen. Leider bannt er den Krieger lediglich für zwanzig Jahre.“
Deans Miene verfinsterte sich.
„Du glaubst also, die Welt ist in zwanzig Jahren noch da . Scheiße, ich würde nicht mal darauf wetten, dass ich die nächsten zwanzig Tage noch erlebe.“
Das entlockte Sam einen Seufzer.
„Ja, da hast du recht. Aber Cass glaubt anscheinend, dass dieses Herz des Drachen wichtig ist, also müssen wir tun, was wir können.“
Keiner der Brüder hatte dem viel hinzuzufügen, also drehte Dean Metallica wieder auf. Das Tape war inzwischen bei Harvester of Sorrow angelangt und Sam wandte sich wieder der Entzifferung der Sauklaue seines Vaters zu.
Irgendwann driftete er in den Schlaf ab. Als er aufwachte, ging bereits die Sonne auf und der Impala flitzte aus Sacramento heraus.
„Also, haben wir einen Plan?“
Sam rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Kaffee?“
Dean schmunzelte.
„An der nächsten Raststätte.“
Sam schlug das ledergebundene Tagebuch seines Dads an der richtigen Seite auf und suchte nach einem Namen.
„Wir können ebenso gut in dem gleichen Motel wie Dad absteigen – Emperor Norton Lodge. Es ist an der Ellis Street, nicht weit von Chinatown. Dann, glaube ich, sollten wir es in dem Restaurant versuchen, in dem Dad den Geist letztes Mal verbannt hat.“
Dean blickte ihn an.
„Emperor Norton?“
Sam hielt inne, bevor er antwortete.
„Du kennst Emperor Norton nicht?“
„Nein, außer du meinst Carneys Figur aus The Honeymooners “, antwortete Dean. „Und ich glaube nicht, dass er es geschafft hat, mystischer Regent der Racoons von Grand High zu werden.“
Sam lachte.
„Ich kann nicht glauben, dass du die Geschichte nie gehört hast. Joshua Norton war ein schlechter Geschäftsmann, der am Ende total durchgedreht ist. 1859 erklärte er sich zu Norton I., Kaiser der Vereinigten Staaten und Beschützer von Mexiko . Er löste den Kongress auf und führte seine eigene Währung ein. Oh, und außerdem erlegte er jedem, der die Stadt ‚Frisco‘ nannte, eine Strafe von fünfundzwanzig Dollar auf.“
Dean schnaubte.
„Ja, klar. Wenn er uns über den Weg läuft, gebe ich ihm ’nen Zwanziger und ’nen Fünfer.“
„Keiner hat ihn ernst genommen, aber alle haben ihn geliebt. Und er hatte ein paar gute Ideen. Eines seiner Dekrete verhieß, die Bay Bridge und den Bay Area Rapid Transit zu bauen. Ich glaube, dass ich vor ein paar Jahren gelesen habe, dass sie die Brücke nach ihm umbenennen wollten.“
„Klasse, dann wohnen wir in der königlichen Suite und besorgen uns chinesisches Essen. Außerdem ist da ein Diner an der nächsten Ausfahrt.“
Sam blickte auf und sah ein blaues Schild, das anzeigte, welche Restaurants an der nächsten Ausfahrt waren. Außer dem Diner gab es drei Fast-Food-Läden und ein Starbucks. Er war versucht, Starbucks vorzuschlagen – was sie sich dank Deans Erfolg beim Pokern leisten konnten. Aber er entschied sich, dieses heikele Thema besser nicht anzusprechen. Sie waren jetzt erst seit einer Weile wieder zusammen auf der Jagd und alles lief gut.
Aber die Wunden waren noch relativ frisch. Es war nicht so sehr, dass Sam die Apokalypse verursacht hatte. Nein, dachte Sam. Das ist scheiße, aber was Dean wirklich verletzt hat, war, dass ich Ruby mehr vertraut habe als ihm. Und dass ich ihn belogen und betrogen habe.
Er hätte es besser wissen müssen.
Wenn es eine Sache gibt, an die wir uns erinnern müssen, ist es, dass wir zusammen besser sind als allein.
Deshalb entschied er, dass er nicht zu Starbucks gehen musste.
Er nickte, als Dean sich in die richtige Spur einordnete.
Albert war guter Laune, als er an diesem Morgen aufwachte. Er zog es vor, nur über zwei Treppen gehen zu müssen, und hatte eine Wohnung über Shin’s Delight. Als er aus dem Bad kam, klingelte sein Handy.
Zuerst fand Albert die Erfindung des Handys genial. Damit konnte er ohne Verzögerungen mit jedem seiner Leute sprechen. Das war ihm sehr entgegengekommen, als er seine Macht über Tommy Shins Zweig der Triaden festigte. Genau wie Tommy war er dem Alten weit voraus, wenn es darum ging, neue Technik einzusetzen. Trotzdem war er sehr vorsichtig bei deren Nutzung.
Leider taten die Strafverfolgungsbehörden das Gleiche. Als er endlich genug Telefone hatte, um ständig über alle Aktivitäten informiert zu sein, war es für die Polizei lächerlich einfach geworden, seine Leute aufzuspüren.
Das Wegwerf-Handy hatte dieses Problem entschärft – schnell im nächsten Kiosk gekauft und für die Cops unmöglich zurückzuverfolgen.
Also wechselte Albert sein Telefon regelmäßig jeden Monat. Die Konten liefen auf die Namen von Kindern, die für die Triaden Besorgungen machten. Das waren die niedrigsten in der Hierarchie, die absolut nichts über die Organisation wussten – und im Zweifelsfall zu jung für eine Strafverfolgung waren.
Das Handy, das jetzt gerade klingelte, war auf den Sohn eines Reinigungsinhabers zwei Häuser weiter registriert. Dafür, dass er den Namen des Jungen benutzen durfte, bekam der Vater einen Teil seiner monatlichen Zahlungen erlassen. Albert griff nach dem Telefon und sah, dass Oscar Randolph auf seine Mailbox gesprochen hatte und dass Han anrief. Also klappte er das Handy auf.
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