Castiels Gesichtszüge verhärteten sich. Obwohl er sich nicht tatsächlich vorwärtsbewegte, schien er jetzt immer größer und imposanter zu werden, bis seine Präsenz Daniels’ gesamtes Blickfeld einnahm. Seine Stimme zitterte vor unverhohlener Wut.
„Ich bin ein Engel des Herrn“, rief er. „Meine bloße Anwesenheit hier hat mich wertvolle Zeit gekostet. Zeit, die unwiederbringlich verloren ist. Das hier ist wichtig.“
Daniels machte einen Schritt zurück, ihre Augen weiteten sich, und ihr vegetatives Nervensystem reagierte. Sie spürte, wie der Schweiß unter ihren Achseln zu perlen begann, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich in ihrer Kehle, bis sie sein Pochen in ihrem Hals spüren konnte. Dann zwang sie sich zur Ruhe.
„Wenn Sie ein Engel wären“, sagte sie wie eine strenge Mutter zu einem unartigen Kind. „Dann würden Sie mir den richtigen Weg weisen, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldigung, aber das ist meine Stadt. Meine Leute waren schon lange hier, bevor Sie gekommen sind, und wir werden die Dinge hier in Ordnung halten, lange nachdem Sie wieder fort sind.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn Sie dann mit Ihren Fragen fertig sind, würde ich gerne nach Hause gehen und ein Aspirin einwerfen. Irgendein Dumpfbeutel hat mich heute dazu gebracht, mein Auto zu Schrott zu fahren, und ich habe höllische Kopfschmerzen.“
Castiel streckte fast gedankenlos die Hand aus und strich über ihre Stirn.
„Das wird noch viel schlimmer.“
Sheriff Daniels öffnete den Mund, um zu antworten, und klappte ihn dann wieder zu. Ihr Bewusstsein wurde mit Bildern und Gefühlen überflutet – blendendes Licht und bedrohliche Dunkelheit, gerechter Zorn, der über die Schlachtfelder der Geschichte zog, und Gnade, göttliche Gnade.
„Ich werde nicht noch einmal fragen“, sagte Castiel. „Wo ist die Schlinge?“
Nun zweifelte Daniels nicht mehr. Vollkommen unwillkürlich war sie auf die Knie gefallen, und ihre Stimme, die jetzt nicht mutig klang – nicht mehr, nicht den kleinsten Hauch –, spie die Worte ohne den geringsten Zweifel aus.
„Die Kirche. Sie ist im Keller der Kirche“, sagte sie.
Als die überwältigenden Gefühle endlich verblasst waren, um Daniels mit der Mutter aller Migränen zurückzulassen, war Castiel längst fort. Sheriff Jacqueline Daniels raffte sich auf und schleppte sich den Rest des Weges zu ihrem Schreibtisch, wo sie sich in den Schreibtischstuhl fallen ließ und ihr Gesicht unter den Händen begrub. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, was sie getan hatte.
Sam und Dean verließen die Kirche auf dem Weg, den sie gekommen waren. Vater und Sohn folgten den Winchesters kommentarlos durch die Tür hinaus. Tommys Pick-up war in der Nähe des Hintereingangs geparkt. Sam kletterte auf den Sitz und rutschte in die Mitte, während er die Schlinge vorsichtig in der Hand hielt.
Schritte schlurften hinter ihnen auf dem Asphalt, und Dean drehte sich um. Er sah Castiel, der durch die Gasse auf sie zukam.
„Hey!“ Tommy erhob seine Taschenlampe. „Wer zur Hölle sind Sie?“
„Ganz ruhig“, sagte Dean. „Er ist in Ordnung.“
„Wo ist er?“ Castiels Blicke wanderten zu der Schlinge in Sams Hand. Seine Stimme klang vor lauter Eifer ganz gepresst. „Habt ihr ihn gesehen?“
„Den Zeugen?“ Dean schüttelte den Kopf. „Entschuldige, Cass – er hat sein persönliches Stunt-Double geschickt. Einen sogenannten Sammler. Der Typ wusste gar nichts.“
„Wir werden sehen, was er mir erzählen kann“, sagte Castiel und drängte sich auf dem Weg zu den Treppenstufen am Hintereingang an ihnen vorbei.
„Äh, Cass …? Ich glaube, das wird wohl nichts.“
Der Engel verharrte und sah zurück. „Was?“
„Sam hat ihn irgendwie … getötet.“
„ Was? “ Castiel starrte sie entsetzt an. „Was habt ihr euch dabei gedacht?“
„Das kann ich dir sagen. Entweder er oder ich“, entgegnete Sam.
„Ich glaube, dass ihr gar nicht versteht, was uns das kosten wird“, sagte Castiel. „Keiner von euch beiden. Euer Egoismus hat uns vielleicht unsere letzte Chance geraubt.“
„Sams Egoismus hat ihm das Leben gerettet“, konterte Dean.
Castiels Gesichtsausdruck strotzte immer noch vor kaum verhohlener Wut. Er schien kurz davor, etwas zu sagen – vielleicht kurz davor, viele wichtige Dinge zu sagen. Am Ende drehte er sich aber einfach um und ging die Stufen hinunter.
Tommy atmete hörbar aus.
„Sollte ich fragen, was das bedeutet?“
„Nein“, sagte Dean. Mit einem Schulterzucken, das eher Müdigkeit als Resignation ausdrückte, ging Tommy über die Straße zu seinem Pick-up und öffnete die Beifahrertür für Dean.
„Ist schon in Ordnung“, sagte Dean. „Lassen Sie mal den Jungen vorne mitfahren. Es ist schließlich mitten in der Nacht.“
„Sie sehen ja noch schlimmer aus als er“, sagte Tommy. „Außerdem hat er da hinten etwas, mit dem er sich beschäftigen kann.“
„Sie meinen ein Spiel?“
Tommy nickte geistesabwesend.
„So was Ähnliches.“
Sie fuhren von der Kirche weg durch eine leere, vom Mond erleuchtete Gasse. Tommy steuerte sie durch die Stadt und blickte ab und zu misstrauisch auf die Schlinge, die Sam immer noch auf dem Schoß liegen hatte und vorsichtig mit dem Stofffetzen festhielt. Aus dem Radio tönte die Marshall Tucker Band mit Can’t you see .
„Es ist schon merkwürdig“, sagte Tommy gedankenverloren. „Da hört man sein ganzes Leben lang Geschichten über etwas, und wenn man es dann endlich findet, fühlt man sich beinahe enttäuscht, wissen Sie?“
„Wir werden die Schlinge zerstören müssen“, sagte Sam. „Früher oder später.“
„Auf dem Schlachtfeld“, sagte Tommy. „Dort muss es passieren.“
„Warum dort?“
„Weil sie dort geknüpft wurde. Aristede Percy hat sie in einem Medizinzelt geknüpft. Mit den gleichen Knoten, die er benutzt hat, um auch die Leiche von Jubal Beauchamp zuzunähen.“
Deans Telefon klingelte. Er zog es hervor und sah auf den Bildschirm.
„Hm, es muss sich irgendwie von dem Bad im Sumpf erholt haben“, sagte er und drückte auf SPRECHEN. „Hey, Bobby!“
Sam beobachtete Dean, der nachdenklich das Messer in seiner Hand betrachtete, während er Bobby zuhörte.
„Bobby, was ist los, Mann?“ Die Stimme des väterlichen Freundes war ein einziges Rauschen, die Worte waren nicht klar genug, um sie erraten zu können. „Was? Ja, haben wir.“ Er blickte zu der Schlinge auf Sams Schoß und dann wieder auf das Messer. „Wir bereiten uns gerade darauf vor, es zu tun. Draußen auf dem Schlachtfeld.“ Er zog eine Augenbraue in Richtung Tommy hoch. „Wie weit ist es noch?“
„Wir sind fast da, sehen Sie?“
Vor dem Fenster leuchtete der Hügel im Mondlicht, obwohl sich die ersten Vorboten der Morgendämmerung bereits im Osten bemerkbar machten. Sam konnte die Umrisse einiger Zelte erkennen, die immer noch am Abhang verstreut zwischen den Kratern standen. Er musste daran denken, was Sarah gesagt hatte. Dass die Rollenspieler sich weigerten, abzuziehen, bevor ihnen jemand erklärt hatte, was mit ihren Kameraden passiert war.
„Also, ja, wir sind …“ Dean verstummte. „ Was? Sag das noch mal?“ Der Pick-up fuhr mit knirschenden Reifen über den Parkplatz und hielt an. Bevor Sam fragen konnte, was los war, hörte er hinten auf der Ladefläche ein dumpfes Klopfen. Unter der Plane, die Dean und ihn auf dem Rückweg aus dem Sumpf bedeckt hatte, bewegte sich etwas. Ein tumultartiges Rumpeln war zu hören, das nach um sich tretenden Füßen oder boxenden Fäusten klang. Sam blickte über die Schulter, aber es war zu dunkel, um zu erkennen, was da los war.
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